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Estland probt den Ernstfall

Von WZ-Korrespondentin Magdalena Meergraf

Politik

Tallinn fühlt sich vom großen russischen Nachbar bedroht und appelliert an die Solidarität von Nato und EU.


Tallinn. "Wussten Sie, dass der künftige österreichische Bundespräsident ein Este ist?", grinst Liisa Past, während sie durch das Cyber-Abwehrzentrum der Nato in Tallinn führt. Es stimmt natürlich nicht ganz, denn die Eltern von Alexander Van der Bellen waren noch vor seiner Geburt zuerst aus Russland und später auch aus dem von Sowjets besetzten Estland geflohen. Man sieht ihn hier dennoch als "einen von ihnen" an.

Und noch weitere Schnittstellen gibt es mit dem baltischen Land: Österreich hat als erstes Nicht-Nato-Land ein Abkommen unterzeichnet, um hier an den Übungen zur Abwehr gegen virtuelle Attacken teilzunehmen. Cyberwar nennt man diese digitale Art des Krieges. Wie wirkungsvoll sie sein kann, zeigte ein sicherheitspolitisches Fiasko im Jahr 2007, als in Estland die Bankomaten und stellenweise das Internet nicht mehr funktionierten.

Anschließend wurde das Forschungs- und Übungszentrum in der Hauptstadt etabliert. Neben Finnland und Österreich sind 16 Nato-Nationen beteiligt. "In der heutigen Computerwelt, wo alles mit Lichtgeschwindigkeit passiert, ist es nicht mehr möglich, national begrenzt mit Cyber-Angelegenheiten umzugehen", sagt Major Christian Tschida, der am Zentrum stationiert ist. Ohne grenzübergreifende Kooperation sei eine Abwehr derartiger Bedrohungen nicht möglich.

Locked Shields heißen die regelmäßigen Wettbewerbe, bei denen fiktive Szenarien durchgespielt werden: Ein Team attackiert Kommunikations- und Infrastruktureinrichtungen. Es versucht beispielsweise, Daten zu stehlen. Die Verteidigerteams müssen innerhalb kürzester Zeit Gegenmaßnahmen entwickeln, um dies zu verhindern. "Österreich war bei dem letzten Manöver vorne mit dabei, wir erreichten den vierten Platz", so Tschida.

Von wo der Angriff von 2007 ausging, konnte bis heute nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Viele Experten gehen davon aus, dass der Angreifer in Russland saß. Generell herrscht in Estland seit Beginn des Ukraine-Konflikts zunehmend Sorge wegen des großen Nachbars. Denn unabhängig zu sein ist für das kleine baltische Land nicht selbstverständlich: Erst 1991, im Zuge des Zusammenbruchs der UdSSR, erlangte es die Souveränität.

Die Nato zeigt daher nicht nur mit digitalen, sondern auch mit militärischen Manövern Präsenz. Der Westen hat bereits mit Sanktionen gegen Russland reagiert. Die befürchteten ökonomischen Folgen für das ohnehin schon stark von der Wirtschaftskrise betroffene Estland blieben aus. Denn die Wirtschaft ist grundsätzlich stark auf den europäischen und den Ostseeraum ausgerichtet.

Flugraum mehrfach verletzt

Die Partnerschaft zwischen Nato und Moskau zerbröselt zunehmend. Nun wird seitens des Westens auf die traditionelle Bündnisverteidigung in Richtung Osten gesetzt. Im Mai hat die britische Royal Air Force vier Eurofighter nach Estland entsandt. Im Rahmen der Mission "Balticum Air Policing" soll der Luftraum an der Grenze zu Russland gesichert werden. Mehrfach mussten bereits russische Maschinen abgefangen werden, die den Luftraum verletzt hatten. "Sie fliegen ohne Transponder und ohne Kennung über die Ostsee nach Kaliningrad", zeigt Ülar Lohmus, Kommandant vom Stützpunkt Amari, auf einer Landkarte vor. Das Gefährliche daran sei, dass es zur Kollision mit zivilen Flugzeugen kommen kann. In Amari, 200 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, starten die Abwehrflüge. Nur sechs Minuten dauert es, bis die Flugzeuge der Nato tatsächlich in der Luft sind. Im Notfall auch schneller, so Lohmus. Seit Jahresanfang hat Estland drei solcher Luftraumverletzungen durch Russland verzeichnet. Man fühlt sich provoziert - und antwortet mit Symbolkraft. Kürzlich fand ein großes Militärmanöver mit 5000 Soldaten aus mehreren Nato-Mitgliedstaaten statt. Dabei werden die Esten aber nicht müde zu betonen, dass man sich hier auf keinen Krieg vorbereitet: "Wir müssen nur sicherstellen, dass wir im Fall einer Fehlkalkulation hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der kollektiven Verteidigung vorbereitet sind." Im strategischen Konzept der Nato von 2010 stehe zwar, dass die Bedrohung für Estland gering ist. "Sie kann dennoch nicht ignoriert werden", betont Kadri Peeters, Beraterin des Premierministers in sicherheitspolitischen Angelegenheiten. Die Politik der gegenwärtigen russischen Regierung bleibe aller Voraussicht nach auch in naher Zukunft die größte Bedrohung für die militärische Sicherheit der Ostseeregion, ist Peeters überzeugt.

Premierminister Taavi Roivas fordert daher mehr Solidarität und Hilfe vom Militärbündnis in Form dauerhaft stationierter Truppen. In den Nato-Russland-Gründungsdokumenten hat sich das Bündnis allerdings verpflichtet, keine Kampftruppen dauerhaft in den osteuropäischen Mitgliedsländern zu stationieren - alle vier Monate wird deshalb gewechselt.

Einige der Mitglieder sehen diese Regelung aufgrund der Ukraine-Krise jedoch als hinfällig an. Beim nächsten Gipfel in Warschau Anfang Juli will die Allianz entscheiden, ob Truppen zwar regelmäßige Übungen in den baltischen Staaten abhalten, sich dabei jedoch weiterhin abwechseln. Estland würde dies als Schritt in die Richtung ansehen. Denn, so betont Peeters: "Russlands Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen und die unberechenbaren Aktionen Moskaus haben negative Auswirkungen auf die Sicherheit in der Region." Man müsse sicherstellen, dass Europa mit seinen Werten von Freiheit und Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit verteidigt werde. Russland hingegen ist über die Aufrüstung des westlichen Verteidigungsbündnisses an seinen Grenzen empört.

Geht es um die Frage der Solidarität, kommt man schnell auf die Flüchtlingskrise zu sprechen. Viele der 1,3 Millionen Esten sehen diese derzeit als die noch größere Bedrohung an. Estland will binnen zwei Jahren 550 Flüchtlinge aufnehmen. Das klingt vergleichsweise wenig, entspricht allerdings der EU-Quote. "Wir tun, was erwartet wird, und wir haben nicht gegen diese Verpflichtung gestimmt", betont Klen Jäärats, zuständig für EU-Angelegenheiten. In der Bevölkerung gibt es teils starke Vorbehalte. Dennoch appelliert er: "Was vereinbart wurde, sollte umgesetzt werden. Denn die Belastung muss geteilt werden." Übrigens habe man Van der Bellen nach seinem Wahlsieg schon nach Estland eingeladen.