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"Europa braucht mehr Max Schrems"

Von Saskia Blatakes

Politik

Datenschutz-Experte Alemanno erklärt, weshalb die Informations-Asymmetrie die TTIP-Verhandlungen stört.


"Wiener Zeitung": Sie haben vor kurzem die NGO "The Good Lobby" gegründet. Was wollen Sie erreichen?

Alberto Alemanno: Es gibt einen regelrechten David-gegen-Goliath-Kampf. NGOs sind in der EU unterrepräsentiert und personell unterbesetzt. Die großen Konzerne investieren dagegen unglaublich viel Geld und Ressourcen, um Politiker zu treffen und sich Zutritt zum politischen Entscheidungsprozess zu verschaffen. Das führt dazu, dass einige Interessen viel besser vertreten sind als andere. Manche Stimmen sind viel lauter als der Rest. Manche hört man überhaupt nicht. Bei der "Good Lobby" geht es uns darum, dass jeder einen Platz am Verhandlungstisch bekommt. Sie ist eine Plattform, die Experten mit NGOs vernetzt, die sich dem Umweltschutz und anderen gemeinnützlichen Zwecken widmen. Mit Experten meine ich Wissenschaftler, Fachleute und auch ganz normale Bürger.

Wie funktioniert das?

Bis 2025 wird sich die Zahl der Einschreibungen an weiterführenden Schulen verdoppeln. Wir haben also immer mehr Akademiker, aber immer weniger Bürger, die sich an öffentlicher Politik beteiligen wollen. Das ist paradox: Je professioneller die Welt wird, umso weniger nutzt sie diese Expertise. Egal ob jemand eine Website programmieren kann oder sich mit Recht auskennt - wir wollen dieses Wissen den NGOs zur Verfügung stellen und ihnen helfen, ihre Projekte zu verwirklichen. Wir wollen eine Brücke schlagen zwischen den Bürgern und der Politik.

Liegt es wirklich am fehlenden Willen der Bürger?

Man hat nur zwei Möglichkeiten, wenn man etwas verändern will: Erstens kann man wählen - wenn man dieses Recht überhaupt nutzt. Zweitens kann man sich für ein politisches Amt aufstellen lassen. Aber ein politisches Amt ist mit hohen persönlichen Kosten verbunden, denken wir nur an den Mord an Jo Cox. Sie hat ihr Leben der Politik gewidmet und sich exponiert. Es gibt aber viele andere Wege, an der Gesellschaft teilzunehmen, das meine ich mit "Bürger-Lobbying". Man kann Politiker kontaktieren, Petitionen starten oder Klagen einreichen.

Gerade beim Datenschutz stehen den Bürgerrechtlern milliardenschwere Internetgiganten gegenüber.

In der digitalen Sphäre verschenken wir jeden Tag aus reiner Bequemlichkeit unsere Daten. Wir vergessen dabei, dass wir ein Recht auf unsere Daten haben und dass wir mitbestimmen sollten, wie und von wem sie genutzt werden. Es ist so einfach, sich bei Apps oder sozialen Medien einzuloggen, dass wir nicht bemerken, dass wir dabei wichtige Rechte aufgeben. Was Max Schrems erreicht hat, ist für mich das perfekte Beispiel für Bürger-Lobbying (Schrems ist österreichischer Jurist, der mit seiner Klage das Safe-Harbor-Abkommen zwischen EU und USA beendete, Anm.). Als Schrems recht bekam, haben mit ihm über 500 Millionen EU-Bürger gewonnen. Er hat dafür keine Organisation gebraucht und er musste kein Politiker sein. Im Gegenteil, er hat mehr erreicht als viele Politiker. Europa braucht viel mehr Max Schrems.

Bei den Bürgern stößt das Thema Datenschutz bisher auf verhaltenes Interesse. Woran liegt das?

Ich frage meine Studenten oft: Wer von euch glaubt, dass Facebook oder Twitter kostenlos sind? Da heben fast alle die Hand. Nur sehr wenige sehen, dass wir mit unseren Daten für die Nutzung bezahlen. Das Bewusstsein ist also sehr begrenzt - selbst bei den Akademikern und in der Generation, die ganze Tage in sozialen Medien verbringt. Aber auch auf der Seite der Regulierung muss noch viel mehr passieren. Die Verschlüsselung, wie sie der Nachrichtendienst WhatsApp jetzt praktiziert, wird vor allem in den USA immer beliebter, aber das ist noch lange nicht genug.

Die europäische Debatte unterscheidet sich sehr von der amerikanischen. Woran liegt das?

Der Grund ist eine fundamentale kulturelle Diskrepanz. Für uns Europäer ist Datenschutz ein Recht, für die Amerikaner eine Ware. Das macht einen sehr großen Unterschied. Die Amerikaner gewähren dem Markt vollen Zugang zu Daten und sie scheinen nicht einmal ein Problem damit zu haben. Wir sprechen da nicht die gleiche Sprache.

Ein häufiges Argument lautet: "Datenschutz ist mir egal, ich habe nichts zu verbergen." Wie wollen Sie die Skeptiker überzeugen?

Es geht erst mal um Eigeninteresse. Jeder, der sich für einen Job bewirbt, wird heute vom Arbeitgeber durchleuchtet. Aber es geht nicht nur um den Einzelnen, sondern auch um die Gesellschaft. Warum sollten wir Werte an ein Unternehmen abgeben, das sich heute schon wie Big Brother verhält? Google agiert sehr smart, indem es seine Geschäftszweige immer weiter ausbreitet. Die Manipulierung der Massen ist eine viel realere Gefahr, als wir glauben. Es ist jetzt schon möglich, zu prognostizieren, was wir als Nächstes kaufen werden. Es gibt einzelne Länder, wie Deutschland, die sensibilisierter sind für Fragen der Menschenrechte und der Menschenwürde. Dann gibt es Länder, die amerikanisierter sind, und solche, die das Problem einfach kaum beachten, wie zum Beispiel die Länder im Süden Europas. Dort gibt es keinen zivilen Widerstand gegen die Absichten der großen Internetkonzerne. Dass diese Akteure alle nicht aus Europa stammen, schafft eine weitere Asymmetrie. Sobald die europäischen Politiker Privatsphäre schützen wollen, heißt es aus den USA, wir seien protektionistisch und das sei den amerikanischen Firmen gegenüber unfair. Aber das stimmt nicht, denn wir gehen gegen europäische Firmen genauso vor.

Sie sind seit 2003 als Berater der EU-Kommission in die Verhandlungen zu einem transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP involviert. Von amerikanischer Seite gibt es viel Unverständnis für die europäische Forderung nach mehr Transparenz. Handelsabkommen seien doch immer schon geheim gewesen, heißt es dort zum Beispiel.

Es stimmt, historisch gesehen fanden sie immer hinter verschlossenen Türen statt. Aber dabei ging es immer um Zölle oder den Austausch von Waren. Heute kann man eigentlich gar nicht mehr von einem Handelsabkommen sprechen, es geht vielmehr um eine neue Art der Wirtschaftspolitik. TTIP betrifft Verfassungsangelegenheiten. Wir sprechen hier darüber, wie viel Schutz wir für unsere Bürger sichern wollen, deshalb brauchen sie Zugang zu den Unterlagen.

In einer noch unveröffentlichten wissenschaftlichen Studie gehen Sie hart mit den USA, aber auch mit der NGO Greenpeace ins Gericht, die dazu Daten durchsickern ließ, die sogenannten TTIP-Leaks. Was stört Sie an der Tatsache, dass Informationen geleakt worden sind?

Wir machen nur Druck auf die EU, dabei ist die viel transparenter. Wir sollten lieber Druck auf die USA machen, ihre Positionen offenzulegen. Seit Cecilia Malmström 2014 Kommissarin für Handel wurde, hat die EU alle Positionspapiere schon vor den Verhandlungen veröffentlicht. Aber die USA sind dem nicht gefolgt. Wir konzentrieren uns alle auf den europäischen Vorschlag, weil der verfügbar ist. Um den amerikanischen kümmern wir uns nicht. Ich habe die 200 Seiten der von Greenpeace veröffentlichten TTIP-Leaks studiert und es gibt darin keinen einzigen Hinweis darauf, dass die EU den amerikanischen Forderungen nachgibt. Die Leaks haben nichts gebracht. Im Gegenteil, sie befeuern nur die Kritik an der EU. Viele Medien haben einfach die Presseerklärung von Greenpeace weiterverbreitet, ohne selbst zu recherchieren. Alle konzentrieren sich auf Kritik an der EU. Das ist nicht konstruktiv. Wir sollten viel eher sagen: Die EU hat ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt sind die USA dran. Bevor es keine gemeinsame Transparenzpolitik zwischen den USA und der EU gibt, wird diese Informations-Asymmetrie die Verhandlungen massiv stören. Sie birgt große Gefahren, denn die Verhandlungsführer setzen sich mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen an den Tisch. Die Amerikaner wissen schon, was die Europäer gleich sagen werden. Das ist wirklich unfair.

Alberto Alemanno
(geboren 1975 in Italien) ist Professor für europäisches Recht in Paris und bezeichnet sich selbst als Bürger-Lobbyisten. Seit 2003 berät er die Europäische Kommission zu den TTIP-Verhandlungen.

Alberto Alemanno sprach am Mittwoch im Rahmen der in Kooperation mit der "Wiener Zeitung" ausgerichteten Alpbach Talks im Wiener Leopold Museum zum Thema "Bürgerrechte im digitalen Zeitalter".