"Wiener Zeitung":Nach den spanischen Parlamentswahlen vom Dezember finden am kommenden Sonntag bereits wieder Neuwahlen statt. Wie konnte es dazu kommen?

Pablo Simón: Ganz einfach: Die Spanier straften die beiden großen Volksparteien, die konservative Volkspartei (PP) und die Sozialisten (PSOE), für ihre Korruptionsskandale und Misswirtschaft ab. Konnten beide Parteien 2008 noch 84 Prozent aller Stimmen vereinigen, waren es im Dezember nur noch knapp 50 Prozent. 34 Prozent der Spanier wählten die neuen Protestparteien, die liberalen Ciudadanos und die linken Podemos. Das traditionelle Zwei-Parteiensystem war beendet, plötzlich sind Koalitionen notwendig. Daran sind Spaniens Parteien nicht gewöhnt. Die Koalitionsgespräche scheiterten. So musste König Felipe VI. Neuwahlen ausrufen.
Von den Neuwahlen kann man sich keine großen Machtverschiebungen erwarten. Wird Spanien nun unregierbar?
Das glaube ich nicht. Wir befinden uns lediglich in einer Übergangszeit, in der sich die Parteien daran gewöhnen müssen, dass nun mehr Spieler auf dem Platz stehen und Kompromisse gesucht werden müssen. Ich denke, mit der Zeit wird sich das einspielen. Auf lokaler Ebene gelingt das bereits. Fest steht: Spanien wird nicht mehr so leicht regierbar sein wie früher, als es nur zwei große Parteien gab, die oftmals sogar mit absoluten Mehrheiten regieren konnten. Das Ende des Zwei-Parteien-Systems ist eine Chance, ein demokratischeres Spanien zu konstruieren, in dem das Parlament die Regierung stärker kontrollieren kann. Die Spanier bereuen ihre Entscheidung vom Dezember nicht, obwohl diese zu instabileren Regierungen führt und längere Zeiten für die Regierungsbildung provoziert.
Woran genau scheiterten die Koalitionsgespräche?
Vor allem die großen ideologischen Unterschiede verhinderten Koalitionen. Eine große Koalition zwischen PP und PSOE hat in Spanien keine Tradition und Chance auf Erfolg, da die Wähler beider Parteien dagegen sind. Auch nach den Wahlen am Sonntag wird dies keine Option sein. Für eine regierungsfähige Koalition mit den konservativen Wahlsiegern waren die Liberalen zu schwach. PSOE und Podemos hätten eine solche Mitte-Rechts-Regierung mit ihren Gegenstimmen verhindert. Ähnlich hätten PP und Liberale gegen eine Allianz aus PSOE und Podemos gestimmt. Sozialistenchef Pedro Sánchez einigte sich schließlich auf einen Pakt mit den Liberalen. Dieser brauchte aber die Unterstützung von Podemos und weder die konservativen Liberalen wollten etwas mit Podemos zu tun haben - noch umgekehrt. Zudem verspekulierten sich die Sozialisten. Sie gingen davon aus, Podemos enthalte sich im Fall, dass PSOE und Liberale eine Regierungsbildung versuchen, um eine konservative Regierung zu verhindern. Das war aber nicht der Fall. Alles sehr verzwickt.
Aber warum konnten sich Sozialisten und Podemos nicht einigen?
Der Sozialist Sánchez und Podemos-Chef Pablo Iglesias haben kein gutes Verhältnis zueinander. Sie kämpften um die selben Wähler. Es herrscht großes Misstrauen zwischen den beiden. Zudem stieß Iglesias den Sozialisten vor den Kopf, forderte für eine Unterstützung zahlreiche Ministerien und ein Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien, was für die Sozialisten immer eine rote Linie war. Podemos will die Sozialisten als politische Alternative zu den Konservativen von Ministerpräsident Mariano Rajoy ablösen und nicht die zweite Geige in der sozialistischen Regierung spielen.
Podemos überreizte also die Koalitionsgespräche, um Neuwahlen zu provozieren und einen neuen Versuch zu starten?
Das ist eine Lesart. Podemos-Chef Iglesias meinte bereits in der Wahlnacht vom Dezember, mit ein paar Tagen mehr Zeit für den Wahlkampf hätten sie die Sozialisten überholt. Genau das passiert jetzt laut sämtliche Umfragen: Nach ihrem Wahlbündnis mit der kommunistischen Vereinten Linken (IU) wird Podemos am Sonntag voraussichtlich hinter den Konservativen die am meisten gewählte Partei sein, mehrere Punkte vor den Sozialisten und den Liberalen.
Was bedeutet das nun für die neuen Koalitionsgespräche?
Mehr Druckmittel für Podemos, die Sozialisten zu einer Koalitionsregierung mit einem Ministerpräsidenten namens Pablo Iglesias zu zwingen. Sie wissen, dass sie die Sozialisten zum Regieren brauchen. Sie haben auch schon angekündigt, auf die für die Sozialisten polemischen Forderungen wie das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien bei zukünftigen Gesprächen zu verzichten. Wenn die Sozialisten ablehnen oder sich enthalten, ermöglichen sie den Konservativen, an der Macht zu bleiben. Das würde zu einem Aufschrei bei den sozialistischen Wählern führen. Podemos kann also nur gewinnen. Entweder geben die Sozialisten ihnen aus Feindschaft zu den Konservativen die Macht und verlieren dadurch ihren eigenen Status als politische Alternative oder sie gewähren die Macht den Konservativen und werden dadurch automatisch von Podemos als Oppositionspartei abgelöst.
Wird Podemos also der große Wahlsieger, obwohl erneut die Konservativen Favoriten sind?
Ich denke nicht. Da Ministerpräsident Rajoy wusste, dass keine Partei mit ihm eine Koalition eingehen will, verzichtete er bewusst, die Initiative bei der Regierungsbildung zu übernehmen. Sein Plan war, dass sich Sozialistenchef Sánchez bei den schwierigen Koalitionsgesprächen politisch verbrennen sollte. Die Strategie ging nicht ganz auf. Dennoch dürften viele konservative Wähler, die beim letzten Mal zu Ciudadanos wechselten und den Pakt der Liberalen mit den Sozialisten missbilligten, nun wieder zurückkehren. Zudem geben die Neuwahlen und das Umfragehoch von Podemos Rajoy die Gelegenheit, eine wirksame, weil polarisierende Angstkampagne gegen Podemos als "linksextremes Abenteuer à la Syriza" zu führen.