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"Verdammt. Das ist nicht lustig"

Von Michael Schmölzer aus London

Politik
"Wir sind draußen" - Die Nachricht ging wie eine Schockwelle durch London.
© Leon Neal

Mit einem Ja zum Brexit war zu rechnen, dennoch reagieren viele Londoner überrascht, | einige beginnen sich jetzt erst über die Konsequenzen Gedanken zu machen - ein Lokalaugenschein.


London. Die "I’m In"-Sticker, mit denen die EU-Befürworter ganz London zugepflastert haben, wirken am Tag danach deplatziert: Die Briten haben den Weg aus der Europäischen Union angetreten, Premier David Cameron hat seinen Rücktritt für Oktober angekündigt. Die Nation ist nach der "In"- und "Out"-Kampagne tief gespalten, überall macht man sich Gedanken, wie die Pro-Europäer in das neue Vereinigte Königreich, das abseits stehen will, integriert werden sollen. "Lasst uns jetzt nach vorne blicken", appelliert eine Britin, die für den Brexit gestimmt hat, in der BBC. Ein anderer Austritt-Befürworter ruft die nationalen und internationalen Medien auf, jetzt nicht von einer "Katastrophe" zu sprechen und zu einer Beruhigung der Lage beizutragen. Ein Kaffee-Verkäufer vor der U-Bahn-Station Kings Cross kann mit den Beschwichtigungen dagegen wenig anfangen. "Es ist eine Schande", ereifert er sich gegenüber der "Wiener Zeitung", "es wird jetzt verdammt eng in Großbritannien."

"Das Leben istzu schön für Politik"

Er will, dass Labour-Chef Jeremy Corbyn das Ruder übernimmt, auch wenn der neue Rising Star der britischen Politszene an dem Debakel mitschuld ist. Denn Corbyn ist euroskeptisch, viel zu
spät hat er begonnen, die Werbetrommel für den Verbleib in der EU zu rühren. Ein Security-Mann, der das Geschehen vor der U-Bahn-Station streng überwacht, meint, dass der konservative Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson, überall nur "Boris" genannt, der "logische" Cameron-Nachfolger wäre. Ein Ehepaar, das im Sonnenschein vor Station sitzt, "mag Boris". Ein anderer reisender Brite, der mit seiner Frau in China lebt, bedauert das Wahlergebnis: "Das United Kingdom sollte in der EU bleiben." Warum? "Better the devil you know" ("besser ein Übel, das man schon kennt"), warnt er vor den ungewissen Gewässern, in die das Kingdom nun segelt. Mit einem neuen Kapitän, den noch keiner kennt.

Nach der Entscheidung ist vielen Londonern die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Auf den Straßen Londons herrscht die übliche Morgenhektik. Manche haben noch gar nicht realisiert, was in der Nacht passiert ist. Eine junge Frau läuft in einem Hostel zu einem Fernseher, schlägt die Hände vors Gesicht, entfernt sich, nur um ungläubig wieder zu kommen. Andere versuchen zu trösten: "Das Leben ist zu kurz und viel zu schön für Politik", sagt einer. "Drinnen oder draußen, ich weiß nicht, wie mich das persönlich trifft", meint er.

Auf der Kings Cross Road in Islingon warten zwei junge Männer in Arbeitskluft auf ihren Bus. Sie sind mit dem Referendum-Ergebnis sehr zufrieden. "Alle die ungelernten Ausländer, die nur das Sozialsystem belasten, werden jetzt abgeschoben", freut sich einer der beiden. "Die, die wir brauchen und die hart arbeiten, die sollen bleiben", ergänzt der andere. Ein paar Meter weiter zieht ein Belgier einen Trolley hinter sich her, er ist auf dem Weg zum Zug und "sehr besorgt", was die Zukunft Europas betrifft. Ein älterer Mann, der mit seinem Hund Gassi geht, hat am Vortag für "Remain" gestimmt. Er macht sich Sorgen um Nordirland. "Dort wird jetzt die Grenze wieder hochgezogen, ich fürchte, es wird wieder Gewalt geben."

Dagegen hat eine Gruppe Jugendlicher noch gar nicht mitbekommen, was passiert ist. "Politik ist langweilig", sagt eine junge Dame. Als man sie aufklärt, dass ihr Land für den EU-Austritt gestimmt hat, reagiert sie plötzlich aufgebracht. "Was? Verdammt. Wie kann das sein. Das ist nicht lustig!" Ein Rezeptionist versucht sie zu trösten: "Das wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht." Nach kurzer Pause fügt er hinzu: "Bis Großbritannien wirklich austritt, dauert es zehn Jahre. Aber eines ist klar: Die Leute, die Geschäfte mit dem Ausland machen, auf die kommt jetzt eine harte Zeit zu."

Spätes Erwachenund erste Probleme

Viele andere Briten haben sich offenbar überhaupt erst nach der Stimmabgabe mit der Frage auseinandergesetzt, welche Folgen ein Brexit tatsächlich für sie und das Land haben könnte. Zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale schossen in Großbritannien die Google-Suchanfragen über die Konsequenzen eines Brexit um 250 Prozent nach oben, berichtet das Onlinemagazin "t3n". Auch die Suche nach den Begriffen "Gold kaufen" und "wie bekomme ich einen irischen Pass" stiegen demnach rasant an.

So mancher britische Tourist hingegen bekam die ersten Folgen des Brexit-Votums hingegen bereits gestern zu spüren. "Es geht schon los!", postete der Brite Matt Rooney auf Twitter aus seinem Griechenland-Urlaub. "Kein Geldumtausch möglich, kein Automat spuckt Geld aus für Briten. Großartig." Das Blue Lagoon Resort auf der Insel Kos sah sich außerstande, britische oder schottische Pfund in Euro zu tauschen. Es gebe noch keinen offiziellen Wechselkurs von der Zentralbank, so die Begründung des Hotels.