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Plädoyer für ein Vereinigtes Europa

Von Saskia Blatakes

Politik

Historiker Brendan Simms über den Brexit und warum sich Europa Großbritannien und die USA zum Vorbild nehmen sollte.


© Stanislav Jenis

"Wiener Zeitung": Der Tenor vieler Kommentatoren zum Brexit lautet, die Briten hätten sich mit ihrem Ja zum Austritt vor allem ins eigene Fleisch geschnitten. In ihrem jüngsten Buch "Europa am Abgrund" prognostizierten sie dagegen, den größten Schaden eines Austritts würde Europa selbst haben, mit "verheerenden psychologischen Folgen". Was meinen sie damit?

Brendan Simms: Europa fühlt sich völlig vor den Kopf gestoßen. Ein Grexit wäre ein Urteil über Griechenland gewesen, der Brexit ist dagegen ein Urteil über die EU. Der Brexit wird als Demütigung empfunden und er kurbelt die separatistischen Tendenzen an. Außerdem nimmt er sehr viel Zeit in Anspruch, weil sich diese Krise zu all den anderen Krisen gesellt, die wir in Europa hatten und haben. Die Eurokrise ist immer noch da und sie allein könnte das ganze EU-System zusammenbrechen lassen. Daneben gibt es noch die russische Krise, die Flüchtlingskrise, die Gefahr des Fundamentalismus und so weiter. Wenn wir uns jetzt nur noch um die britische Krise kümmern, wäre das für Europa sehr schlecht.

Was muss also geschehen?

Wir sollten all diese Krisen und Fragen in einem behandeln und nicht kleinteilig, wie es derzeit passiert. Wir müssen aus der anglo-amerikanischen Geschichte die richtigen Lehren ziehen. Der Euro braucht eine gemeinsame Währungspolitik, ein gemeinsames Parlament, eine gemeinsame Armee und wenn wir den Schengen-Raum erhalten wollen, dann brauchen wir auch gemeinsame Außengrenzen. All das geht nicht ohne eine echte politische Union. Kontinentaleuropa muss zu einem einzigen Staat zusammenwachsen. Und zwar nicht in einem langsamen historischen Prozess, sondern durch ein Ereignis. Die Engländer und Schotten hatten so etwas 1707, als sie sich zum Vereinigten Königreich zusammengeschlossen haben. Die amerikanischen Staaten haben sich Ende des 18. Jahrhundert zu einer Republik zusammengefügt. Sie haben ein gemeinsames Parlament geschaffen, eine gemeinsame Staatsschuld, eine gemeinsame Armee und eine gemeinsame Außenpolitik. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder das Kerneuropa, das aus dem Schäuble-Lamers-Plan hervorgeht...

... Also jener 1994 von den CDU-Politikern Wolfgang Schäuble und Karl Lamers entwickelte Plan, in dem eine kleine Gruppe von Kernstaaten die europäische Integration vorantreiben sollte. Diese Idee eines Europas der zwei oder mehreren Geschwindigkeiten wird ja auch dieser Tage wieder diskutiert.

Ja, und das Ergebnis wäre vergleichbar mit dem Vereinigten Königreich, also eher eine asymmetrische Union, in der Deutschland das größte Gewicht hätte, ähnlich wie England in Großbritannien. Eine stärkere Rolle Deutschlands wäre schon sehr viel besser, als das, was wir jetzt haben. Denn wir haben Chaos. Trotzdem bevorzuge ich stark die zweite Lösung: Eine symmetrischere Union nach dem Modell der Vereinigten Staaten. Aber eine dieser zwei Modelle müssen wir schaffen, denn sonst wird die ganze Sache auseinander brechen.

Vor allem die Briten haben die europäische Integration immer mit einem Erstarken Deutschlands gleichgesetzt und deshalb ein Vertiefen der politischen Union blockiert. Haben Sie Verständnis für die Angst vor deutscher Dominanz?

Historisch kann ich sie verstehen. Margaret Thatcher hatte diese Befürchtung. Die Franzosen unter Jacques Delors und François Mitterand hatten die Vorstellung, sie könnten die deutsche Macht einhegen. Aber eine echte Union hat es nie gegeben. Es hat sich dann eine europäische Konföderation entwickelt, die tatsächlich die Macht Deutschlands gestärkt hat. Da geht es gar nicht um Deutschlands Verhalten. Es ist eher eine strukturelle Frage.

Man kann ebenso ein starkes Land wie Deutschland nur mittels einer politischen Union sowohl einhegen wie auch seine Kraft nutzen. Das wird nämlich oft übersehen: Wir müssen die Deutschen auch für den Schutz der Außengrenzen mobilisieren. Wir haben aber keine Union, sondern nur eine Konföderation, in der es die Deutschen und andere Staaten in der Mitte Europas nicht interessiert, was am Mittelmeer passiert. Deutschland ist eingebettet und umringt von anderen demokratischen Staaten und verspürt deshalb keinen geopolitischen Schmerz. Deshalb wurde es auch weder in Syrien, noch in der Russland-Krise aktiv. Erst durch die Migrationskrise und Schengen hat Deutschland diesen Schmerz gespürt. Alle erfolgreichen Unionen der Welt waren militärische Unionen, besonders die anglo-schottische und die amerikanische. Beide wurden wegen einer akuten Bedrohung geschaffen. Bei den Engländern und Schotten kam die Bedrohung aus Frankreich, das war sowohl eine strategische, als auch eine ideologische Bedrohung. Das Ziel war ein Projekt zur Verteidigung der eigenen Werte. So war es auch bei den Amerikanern. Die waren zwar die Briten los, aber immer noch umzingelt von feindlichen Mächten - von Seeräubern, Spaniern, den Ureinwohnern.

Taugen die historischen Beispiele wirklich zum Vergleich? Es sieht derzeit eher so aus, als ob sich die europäischen Nationalstaaten schwer tun mit überstaatlichem Föderalismus, es dominieren Eigeninteressen.

Die Frage ist doch: Kommen wir ohne Föderalismus aus? Wir haben schon drei föderalistische Projekte begonnen, ohne je die nötigen föderalistischen Instrumente zu schaffen: Der Euro - eine Währungsunion par excellence ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik, die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der EU - ohne eine gemeinsame Armee und natürlich der Schengen-Raum - ohne eine gemeinsame Außengrenze. Vergleichen wir das einmal mit den USA: Das wäre, als ob dort, die an der Südgrenze gelegenen Länder für die Grenze verantwortlich wären. Wenn die nicht können oder wollen, gibt es de facto keinen Schutz. Das ist doch unlogisch.

Zeigt nicht gerade der Brexit, dass ein großer Teil der EU-Bürger nicht bereit ist, Souveränität und Nationalismus aufzugeben?

Beim Brexit geht es um die Wiederherstellung der Souveränität des Vereinigten Königreichs. Das europäische Projekt war eigentlich dazu gedacht, die Souveränität der Nationalstaaten abzuschaffen. Das klingt natürlich heute befremdlich. Aber: Das europäische Projekt war immer dazu da, das europäische Problem zu lösen, nicht das britische! Das ist der Unterschied zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa. Die Bürger Kontinentaleuropas haben ja ihre Souveränität teilweise schon aufgegeben: ihre Währung, ihre Außenpolitik, die Kontrolle ihrer Grenzen.

Trotzdem steigt die Unzufriedenheit mit der EU. In fast allen Ländern gewinnen Rechtspopulisten und EU-Skeptiker an Einfluss. Was haben sie dem entgegenzusetzen?

Was ist denn die Alternative zur EU? Die Rückkehr zum Nationalstaat mit den nationalen Währungen, den nationalen Armeen und Grenzen? Aber das bedeutet eben nicht nationale Souveränität. Für echte Souveränität braucht man eine gewisse Masse und Kohärenz, ein Gewicht in der Welt. Das Vereinigte Königreich und England haben das. Aber fast alle restlichen Staaten Europas haben diese Bedeutung nicht. Deutschland hat wiederum zu viel und muss durch europäische Strukturen eingehegt werden. Historisch gesehen gab es immer lange Diskussionen und Kongresse, bei denen sich beispielsweise auch die Amerikaner lange nicht auf eine Republik einigen konnten. Aber das waren klarsichtige und radikale Männer - damals waren es ja tatsächlich nur Männer. In Kontinentaleuropa denkt man immer, der Engländer sei besonders pragmatisch und das Vereinigte Königreich sei ganz natürlich gewachsen. Aber das ist historisch gesehen völlig falsch. Das Vereinigte Königreich ist das Produkt eines radikalen Gedankens. Auch die Amerikaner haben sich damals hingesetzt und von Grund auf einen neuen Staat erfunden. So müssen wir das auch in Europa machen.

Brendan Simms stammt aus Irland und lehrt als Historiker in Cambridge. Er gilt als einer der besten Kenner europäischer und angloamerikanischer Geschichte und ist Mitgründer der Denkfabrik "Project for European Union". In Wien sprach er zuletzt auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.