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Von Weckrufen und Bankrotterklärungen

Von Siobhan Geets aus Straßburg

Politik

Die Vorsitzende der Fraktion "Die Grünen/Europäische Freie Allianz" im Europaparlament, die Deutsche Rebecca Harms, ist nicht für eine strukturelle Veränderung in der EU. Vielmehr sollte man inhaltlich besser arbeiten.


"Wiener Zeitung": Sie haben den Brexit einen Weckruf genannt. Warum und seit wann wird geschlafen?Rebecca Harms: Ich würde nicht sagen, dass wir geschlafen haben. Wir Politiker, nicht nur jene in Brüssel, sondern auch die zu Hause, haben manche Entwicklungen beobachtet und über Auswege diskutiert. Bei manchen der großen Probleme haben wir keine Zeit mehr, wir müssen handeln. Ich glaube das, was im Referendum eine Rolle spielte, hat nicht nur mit den Defiziten unserer Politik zu tun. Eher ist die Brexit-Kampagne auf eine bestehende Unzufriedenheit aufgesattelt worden und hat diese verschärft. Wir brauchen bessere Antworten, um dem erschütterten Vertrauen zu begegnen. Das wissen die Politiker, nicht nur hier, sondern auch in Berlin, Paris, Wien. Man sitzt es aber immer aus.

Was ist das dringendste Problem? Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich gehöre nicht zu denen, die die institutionellen Probleme in den Mittelpunkt stellen wollen. Die meisten Bürger spüren ein Unbehagen mit der EU. Sie projizieren ihren Verdruss auf diese Ebene, verstehen die Ebene aber nicht. Ich habe vorige Woche in Polen auf einer Tagung über Pressefreiheit zwei Journalistinnen aus Großbritannien kennengelernt. Sie sagten, sie hätten die großartige Rede dieses schottischen Abgeordneten (Alyn Smiths Rede im Europaparlament in Brüssel, Anm.) in dieser europäischen Sitzung gesehen und wollten wissen, was das eigentlich für eine Sitzung war und ob die regelmäßig stattfindet. Ähnlich grundsätzliche Fragen stellen ja viele, das ist nicht nur ein britisches Problem. Deshalb können wir uns bei der Frage, wie wir das Institutionelle weiter verändern können, zurücklehnen. Wichtig ist, dass wir die Unsicherheiten mit besserer Politik beantworten und nicht den Nationalisten und Anti-Europäern das Feld überlassen.

Sie sagen aber auch, dass Sie die Beteiligung der nationalen Parlamente an den Entscheidungen der EU verbessern wollen. Ist das kein Widerspruch? Was meinen Sie genau damit?

Das Europaparlament muss die Arbeit der Kommission kontrollieren und ist als Gesetzgeber entscheidend. Ich finde aber, dass wir einen Mangel an der Anbindung an die nationale Ebene haben. In skandinavischen Parlamenten werden Ratssitzungen viel mehr vor- und nachbearbeitet. Die nationalen Parlamente können nur über eine besser geregelte Beteiligung ein eigenes "ownership" an europäischen Themen entwickeln. Es wird ihnen sonst sehr leicht gemacht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Nationale Regierungen sagen in Brüssel Ja und können sich zu Hause nicht mehr daran erinnern. Das hat übrigens bei Ceta und der Verstimmung von Kommissionschef Jean-Claude Juncker eine große Rolle gespielt: Dass man gerne mit dem Finger auf Brüssel zeigt, aber selber in Berlin oder Wien nicht sagt, dass man etwas zu sagen haben will.

Die Briten haben angekündigt, ihre Körperschaftssteuer auf 15 Prozent reduzieren zu wollen ...

Gleichzeitig haben sie angekündigt, dass die Sozialleistungen reduziert werden müssen. Das ist eine interessante Ankündigung, nachdem man eben die kleinen Leute gegen Brüssel aufgebracht hat.

Bei der Körperschaftssteuer würde sich die Konkurrenz mit Großbritannien am Finanzsektor verschärfen. Sehen Sie da eine Gefahr, dass sich die EU in eine neoliberalere Richtung entwickelt - also das Gegenteil dessen, was viele auch in Ihrer Fraktion nach einem Brexit hoffen?

Ich finde es interessant, dass die Briten außerhalb der EU und mit all den Unsicherheiten am Binnenmarkt keine andere Idee haben, als die Steuern zu senken. Das ist eine Bankrotterklärung des Brexit-Lagers, das seinen Leuten mehr staatliches Geld versprochen hat und mehr Investitionen ins Sozialsystem.

Aber das könnte der EU auch schaden.

Irland hat heute auch schon niedrige Steuern, und wir kommen damit zurecht.

Wie lange werden britische Europaabgeordnete ihre wichtigen Posten, etwa in den Ausschüssen oder als Berichterstatter, halten können?

Die Briten bleiben in der EU und zahlen ihre Beiträge, bis ein EU-Austritt ausverhandelt ist. Die Abgeordneten sind gewählt und das bleiben sie auch. Ob man den Abgeordneten Themen in Ausschüssen überlässt, die in Zusammenhang mit dem Brexit vielleicht eine unbefangene Haltung benötigen, das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Es ist allerdings ehrenwert, dass der britische EU-Kommissar Jonathan Hill zurückgetreten ist. Doch Großbritannien hat immer noch Anspruch auf einen Kommissar.

Rechtspopulisten in ganz Europa steigen auf den Brexit-Gaul auf und rufen nach mehr Bürgerbeteiligung durch Referenden. Das kommt gut an bei jenen, die sich von der Elite im Stich gelassen fühlen. Was kann die Linke dem entgegensetzen?

Für uns ist das nicht neu. Seit langem, mindestens seit der Bankenkrise, sind ganz offensichtlich immer mehr Bürger in der EU in diesen global ausgelösten Krisen unsicher und haben Zukunftsängste. Ich kann das auch verstehen, weil ich sehe, wie weit die Welten der Reichen und der normalen Leute auseinanderklaffen. Man muss Antworten geben, wie das wieder zusammengeführt werden kann. Die EU ist ein Raum, in dem es möglich ist, den Finanzmarkt stärker zu regulieren, wenn es alle tun.

Das wird mit einer deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel aber schwer werden.

Wir müssen darüber reden, was es heißt, wenn (Finanzminister) Wolfgang Schäuble sagt, wir haben unser Rendezvous mit der Globalisierung. Wenn man diese Schere nicht zusammenbringt und nicht gemeinsam etwas für den Aufschwung tut, dann überlässt man die Verunsicherten und Ängstlichen den Hetzern.

Wie kann man aber Merkel von einer strengeren Finanzpolitik überzeugen?

Dieses Thema verbindet sich mit dem Thema, weswegen Angela Merkel solche Schwierigkeiten bekommen hat. Unsere Gesellschaften haben sich polarisiert, was die Flüchtlinge und die EU betrifft. Das hat auch mit der Unsicherheit und dem Ungerechtigkeitsgefühl zu tun. In unseren Ländern brechen die Sozialsysteme immer weiter zusammen. Ich denke nicht, dass wir unsere offenen und liberalen Gesellschaften verteidigen und unsere Pflichten gegenüber Kriegsflüchtlingen erfüllen können, wenn wir nicht auch gegen die Unsicherheit in unseren Gesellschaften ankämpfen.