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"Das ist das schlimmste Drama"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer aus Nizza

Politik

Am Abend des Nationalfeiertages rast ein Attentäter mit einem Lkw in Nizza in eine Menschenmenge.


Nizza. Es ist ein strahlender Freitagmorgen in Nizza, aber Isabelle Granger trägt ihre Sonnenbrille nicht nur, weil die Sonne sie blendet. Sie dient als Schutz, der helfen soll, die Fassung zu bewahren. Was sie in der Nacht zuvor erlebt hat, war kein Albtraum – sondern unfassbare Realität. "Das Bild, das mir im Kopf bleibt, ist dieser weiße Lastwagen hinter mir, der fährt wie ein Zug. Der einfach nicht anhält. Und der lauter Menschen unter sich begräbt", erzählt die Frau und wischt sich verstohlen mit einem Taschentuch über die Augen hinter den verdunkelten Gläsern.

Schüsse fielen, Menschen liefen in Panik in alle Richtungen, erinnert sich Granger. Sie und ihr Mann befreiten sich aus der Masse auf der Strandpromenade, um sich in den Keller eines Hauses zu retten, wo sie mit anderen Menschen ausharrten. "Es wurde herum erzählt, dass Terroristen mit Schusswaffen unterwegs sind, wir versuchten, leise zu sein. Frauen und Kinder weinten, alle hatten Angst."

Doch es war nicht eine Gruppe von Fanatikern, sondern ein einzelner Mann, der so viel Unheil anrichtete: Mohamed Lahouaiej Bouhlel, ein 31-jähriger Mann, der in Tunesien geboren wurde und in Nizza wohnte. Gegen halb elf Uhr abends durchbrach er am Donnerstag mit einem gemieteten Lastwagen die Absperrgitter vor der Promenade des Anglais und raste in die Menge, ohne zu bremsen. Rund 30.000 Menschen befanden sich auf dieser mondänen, mit Palmen bepflanzten Flaniermeile, auf die die Stadt an der Côte d’Azur so stolz ist. Von dort bot sich ein guter Blick auf das traditionelle Feuerwerk am 14. Juli, Frankreichs Nationalfeiertag. Bis in das Krachen des Spektakels Schüsse fielen. "Erst dachte ich, es handelt sich um Böller, doch als die Leute anfingen zu brüllen und in alle Richtungen zu laufen, war mir klar, dass hier etwas nicht stimmt", sagte ein Augenzeuge später. Die Schüsse gab nicht nur der mit einer Pistole bewaffnete Täter ab, sondern gaben auch Polizisten, die den Lastwagen verfolgten. Schließlich gelang es ihnen, den Mann am Steuer zu töten. Laut "Le Parisien" war auch ein Passant beteiligt, er sei aus der Menschenmenge auf den LKW gesprungen und wollte ihn anhalten.

Noch viele in Lebensgefahr
Über eine zwei Kilometer lange Strecke hatte der Laster alles mitgerissen, was sich vor ihm auftat: Bäume, Blumenstöcke und vor allem viele Menschen. Der Fahrer soll sogar einmal die Richtung geändert haben, um möglichst viele Menschen zu erfassen. Mindestens 84 Personen kamen ums Leben, unter ihnen auch mehrere Ausländer. Erst am Freitagmorgen konnten alle Leichen weggebracht werden, die zugedeckt auf der Straße und den Gehsteigen lagen. Ein Fotograf hielt das erschütternde Bild einer rosa gekleideten Puppe neben einem kleinen, verhüllten Körper fest. Es war die Puppe eines Mädchens, das wohl einen seiner ersten Nationalfeiertage erlebt – und nicht überlebt hat. Fast 60 Kinder wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Dutzende waren verletzt, Präsident François Hollande spricht am Freitagnachmittag von rund 50 Personen, die sich noch "zwischen Leben und Tod" befänden.

Am Tag danach ist die Promenade ausgestorben. Jene Urlauber, die in Badekleidung und mit ihren grellbunten Matratzen zum Stadtstrand gehen, wirken seltsam fehl am Platz. Auf den Nationalfeiertag, eigentlich ein stolz und fröhlich zelebriertes Ereignis, folgt eine nationale Trauer von drei Tagen.

"Ganz Frankreich ist vom islamistischen Terrorismus bedroht", sagte Hollande. "Es ist klar, dass wir alles tun müssen, um die terroristische Plage zu bekämpfen." Es sind ähnliche Worte, wie sie schon am 7., 8. und 9. Jänner 2015 fielen, als Islamisten bei Anschlägen auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo", auf eine Polizistin und einen jüdischen Supermarkt 17 Menschen ermordeten. Und dann erneut in der Nacht vom 13. November 2015, als 130 Menschen Opfer einer Terror-Serie in den Straßen von Paris, in der Konzerthalle "Bataclan", vor Cafés, Restaurants und dem Fußballstadion Stade de France wurden. Und nun also wieder dieselben Worte, die Entschlossenheit demonstrieren wollen und doch so bitter hilflos klingen. Wie schon im November spricht Premierminister Manuel Valls erneut von einem "Krieg, den der Terrorismus sich mit uns liefert": "Aber Frankreich ist eine große Demokratie, die sich nicht niederschlagen lässt."

Hass auf Frankreich
Hollande kündigte am Freitag auch an, die Aktionen in Syrien und im Irak, wo sich Frankreich auch mit Luftschlägen am Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) beteiligt, noch zu verstärken. Es sind gerade die militärischen Einsätze im Kampf gegen den sogenannten "Islamistischen Staat", die Terroristen oft als Rechtfertigung für ihre Taten hervorbringen. Noch fehlen Informationen, um einzuschätzen, ob den Attentäter eine radikal-islamistische Ideologie antrieb. "In der einen oder anderen Form" hatte er Kontakt zum radikalen Islam, sagte Premier Valls. Aber weder den Geheimdiensten noch seinen Bekannten war Lahouaiej Bouhlel als Islamist bekannt.

Doch eines ist sicher: Wenn Frankreich besonders exponiert ist, liegt das auch am Umgang mit seiner Kolonialgeschichte. Viele Menschen mit Wurzeln in Nord- und Westafrika sind nicht in der Gesellschaft angekommen, gelten höchstens als Franzosen zweiter Klasse. Ausgegrenzt in den verwahrlosten Vorstädten entwickeln viele von ihnen einen explosiven Hass gegen Frankreich. Ohne Perspektive und mit gebrochener Identität scheinen sie besonders anfällig für extremistische Botschaften.

Auf alles vorbereitet?
Inzwischen sind in Frankreich schon mehr Soldaten im Inland als im Ausland eingesetzt. Hollande will nun ihre Zahl noch weiter erhöhen. Den seit November geltenden Ausnahmezustand will er um drei Monate verlängern. Noch am Donnerstagnachmittag hatte Hollande bei seinem traditionellen Fernsehinterview zum 14. Juli angekündigt, diesen am 26. Juli enden zu lassen, da man "einen Ausnahmezustand nicht ewig ausdehnen" könne.
Bereits am Tag nach dem Attentat kritisiert die Opposition die ihrer Ansicht nach mangelnden Sicherheitsvorkehrungen. "Hätte man alle Maßnahmen getroffen, wäre das Drama nicht passiert", sagt etwa der konservative Ex-Premierminister und Präsidentschaftskandidat für die Wahl 2017, Alain Juppé. Premier Valls wies Vorwürfe, die Sicherheitskräfte hätten versagt, zurück.

Medien zufolge verfügt Nizza über die am besten ausgerüstete Stadtpolizei Frankreichs. Als eine der zehn Austragungsstädte der Fußball-Europameisterschaft wurde ein Sicherheitsplan ausgearbeitet, bei dem die Fanmeile unweit der Strandpromenade und die Innenstadt stark überwacht wurde. Laut dem regionalen Unterpräfekten François-Xavier Lauch bereitete man sich sogar auf "nukleare, bakteriologische und chemische Attacken und vom Meer kommende Angriffe" vor. Aber den brutalen Lastwagenanschlag hatte man nicht auf dem Schirm – ebenso wenig wie den Täter, dessen Wohnung am Freitag durchsucht wurde. In dem Fahrzeug fanden die Ermittler eine "unwirksame Granate" sowie Waffen-Attrappen.

Ein Hort der Dschihadisten
Zunächst wird aber nur wenig über den Mann bekannt, der laut Polizei zwar wegen einer Schlägerei nach einem Verkehrsstreit aufgefallen war, nicht aber wegen Radikalisierung oder Kontakt zu islamistischen Gruppen. Nachbarn beschreiben ihn als einzelgängerisch und schweigsam, Grüße habe er nicht erwidert und keinerlei Anzeichen von Religiosität gezeigt. Auch ein Bekennerschreiben taucht zunächst nicht auf.

Doch die Touristenhochburg Nizza gilt seit längerem als Dschihadisten-Hort. Aufgrund ihrer geografischen Lage am Mittelmeer zählt sie einen hohen Anteil von Einwanderern aus dem Maghreb und vor allem von radikalisierten jungen Männern. Rund 55 Personen sind bekannt, die nach Syrien, in den Irak oder Libyen ausgereist sind. Bereits vor ein paar Jahren wurden Attentatspläne auf größere Massenansammlungen in Nizza aufgedeckt und offenbar nur knapp von den Behörden verhindert.

In Nizza soll auch der radikale Hassprediger Omar Diaby alias "Omar Omsen", der der salafistischen Al-Nusra-Front in Syrien nahesteht, Männer für den Dschihad "trainiert" haben. In einem kürzlich ausgestrahlten Interview rechtfertigte er den Mord an Zivilisten mit den "französischen Luftschlägen gegen Frauen und Kinder" in Syrien. Doch hatte Mohamed Lahouaiej Bouhlel Kontakte in die islamistische Szene? Hatte er Komplizen? Warum griff er zu dieser Tat? Trauer und Unverständnis herrschen am Tag danach an einem der schönsten und strahlendsten Orte Frankreichs.