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Rache an den Angreifern

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Laut Amnesty International werden Verdächtige nach dem Putschversuch in der Türkei massenhaft gefoltert und misshandelt.


Istanbul. Die Bilder erinnern an das US-Foltergefängnis Abu Ghraib im Irak, aber sie stammen aus der Türkei. Dutzende Männer liegen mit auf den Rücken gefesselten Händen und Sack über dem Kopf halbnackt auf dem Boden einer Halle. Andere Fotos zeigen blutig geschlagene Häftlinge. In einem Video sieht man Generäle in einer Reihe, die immer wieder ihren Namen und Rang nennen müssen, während Kameras klicken. Sie können sich kaum auf den Beinen halten, ihre Körper und Gesichter sind von Schlägen gezeichnet. Die Bilder kursieren millionenfach im Internet und werden von Medien verbreitet, die der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nahestehen.

"Diese Bilder sind absolut schockierend, aber sie zeigen wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs", sagt Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Istanbul. Seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli rollt eine Welle von Massenverhaftungen durch die Türkei. Für den Putschversuch machen Präsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung in Ankara die Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen verantwortlich, die in der Türkei als Terrororganisation geführt wird.

Schläge und Vergewaltigungen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schrieb am Sonntag in einer beunruhigenden Erklärung, dass ihr glaubwürdige Hinweise auf Misshandlungen und Folter gegen festgenommene Verdächtige in der Türkei vorlägen. Sie beziehen sich auf den Umgang mit rund 13.000 Verdächtigen, denen eine Beteiligung am Putschversuch vorgeworfen wird. Gefangene würden von der Polizei in Ankara und Istanbul "in schmerzhaften Positionen über einen Zeitraum von bis zu 48 Stunden" festgehalten.

"Berichte von Misshandlungen inklusive Schlägen und Vergewaltigung in Polizeigewahrsam sind extrem alarmierend", sagte Europa-Direktor John Dalhuisen. Die türkische Regierung müsse diese "abscheulichen Praktiken" sofort stoppen und unabhängigen Beobachtern den Zugang zu allen Einrichtungen gewähren, in denen Verdächtige festgehalten werden. Ein türkischer Regierungsvertreter wies die Vorwürfe kategorisch zurück. Vorgegangen werde gegen jene, die während des Putsches "250 Zivilisten kaltblütig ermordet haben".

Verantwortlich für die Recherchen, auf denen die Amnesty-Angaben beruhen, ist Rechercheur Andrew Gardner, der seit zehn Jahren in Istanbul lebt. "Die jetzigen Vorgänge werfen die Türkei bezüglich der Menschenrechtslage um Jahrzehnte zurück", sagte er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Sein Team hat in Ankara und Istanbul mit Anwälten, Ärzten, Angehörigen von Häftlingen und sogar mit einem Wächter aus einer Hafteinrichtung gesprochen. Die Berichte stimmten überein, es gebe keinen Grund, an ihnen zu zweifeln, sagt Gardner.

Die Folter-Fotos und -berichte stammen vor allem aus drei Massenlagern Ankaras - einer Halle und Ställen des Baskent-Sportklubs und einer Sporthalle im Polizeihauptquartier, das die Putschisten am 15. Juli attackiert hatten. "Vor allem die Misshandlung hochrangiger Soldaten wirkt auf mich organisiert und wie eine Rache an den Angreifern", sagt Gardner. 650 bis 800 gefangene Soldaten seien in diesem Polizeizentrum gefangen, die Hälfte sei misshandelt worden, 40 Offiziere so schwer, dass sie nicht mehr laufen könnten. Ein Mann sei mit lebensgefährlichen Wunden ins Krankenhaus gekommen. "Laut unseren Quellen werden die Häftlinge massiv geschlagen, wir haben Berichte über gebrochene Rippen und Wangenknochen und über Vergewaltigungen mit Fingern und Stöcken."

Vom Hauptzeugen für die mutmaßliche Täterschaft der Gülen-Bewegung, Oberstleutnant Levent Türkkan, verbreiten Medien ein Bild, auf dem er halb tot aussieht, mit bandagiertem Rumpf und Händen, die aussehen, als trügen sie einen Gipsverband. "Was ist seine Aussage wert?", fragt Gardner und gibt die Antwort: "Gar nichts. Die Folter bewahrt die Urheber des Putsches aber möglicherweise vor einer Strafe, da spätestens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die darauf beruhenden Urteile aufheben wird. Wenn man die Verantwortlichen hinter Gitter bringen will, sollte man gut auf sie achtgeben."

Billigung der Verbrechen

Selbstverständlich müssten die Verantwortlichen für den Putsch vor Gericht gestellt und verurteilt werden, sagt der Amnesty-Mitarbeiter. Doch alle durch Folter gewonnenen Aussagen seien nach internationalem wie nach geltendem türkischen Recht wertlos. Mit den Misshandlungen zerstöre der Staat seine eigene Beweiskette gegen die Gülenisten. "Dass die Regierung sie nicht verurteilt und diese Bilder verbreiten lässt, ohne sie zu kritisieren, kommt einer Billigung der Verbrechen gleich."

Gardner kritisiert zudem das am Samstag erlassene Dekret Erdogans, das es Behördenvertretern erlaubt, bei Treffen von Verdächtigen und Anwälten anwesend zu sein und die Gespräche aufzuzeichnen. Dokumente, die zwischen Festgenommenen und Anwälten ausgetauscht werden, dürfen beschlagnahmt werden. "Damit wird das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren unterlaufen." Angehörige werden im Unklaren über das Schicksal ihrer Verwandten gelassen. Viele Anwälte würden keine Mandate annehmen, aus Angst, dann selbst als Gülenisten abgestempelt zu werden. "Außerdem berichten uns die Anwälte, dass ihre Mandanten kaum oder gar nicht über den Putsch verhört werden, sondern vor allem zu ihrer Verbindung zur Gülen-Bewegung."

Amnesty International fordert das Antifolter-Komitee des Europarats auf, so schnell wie möglich in die Türkei zu kommen und die Hafteinrichtungen und Sammellager zu besuchen. "Die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei sind in höchster Gefahr", sagt Andrew Gardner.