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"Ein Pass sagt nichts über die Identität"

Von Yvonne Brandstetter

Politik

Spanisches Verfassungsgericht hob Trennungsbeschluss des katalanisches Regionalparlaments auf.


Barcelona. Xavier Casabayó Mallol schwenkt wieder einmal mit vor Stolz geschwellter Brust seine Katalonien-Fahne. Gelb-rote Streifen glitzern im Licht der Sonne. Er trägt sein Shirt mit der Aufschrift "Som un pais" (Wir sind ein Land). Von Kopf bis Fuß ist er in die katalanischen Nationalfarben gelb und rot gehüllt.

Gemeinsam mit Freunden macht sich der junge Katalane aus dem Dorf Caldes de Montbui bereit für eine der regelmäßig stattfindenden Demonstration, die für Kataloniens Unabhängigkeit von Madrid eintreten.

Proteste dieser Art sind in Katalonien keine Seltenheit mehr. Vor allem am Nationalfeiertag ist die Hauptstadt Barcelona überfüllt von begeistert Flagge zeigenden Katalanen. Von den Häusern hängen die Nationalflaggen, rote und gelbe Blumen strahlen vom Balkon. Kleine Werbestände werden aufgebaut, Jugendliche verteilen Flyer, aus einem Radio tönt "Els Segadors", die Nationalhymne. Die Demonstranten möchten ein klares Statement setzen. Die katalanische nationalistische Jugend, zu der auch Mallol gehört, ist sich sicher: Das Erreichen der Unabhängigkeit ist machbar.

Ruf nach legalem Votum wird in sozialen Medien gefordert

In der Region sind diverse politische Bewegungen aktiv. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren - noch während der Diktatur Francisco Francos, die alles Katalanische strikt untersagte - kam eine Jugendbewegung des Widerstands auf.

Heute müssen die Katalanen keine Gefängnisstrafe mehr befürchten, wenn sie auf der Straße ihre Muttersprache sprechen. Doch die Rufe nach Unabhängigkeit werden lauter. Die Liste der Gruppierungen ist lang. Von politischen Zusammenschlüssen, über Online-Plattformen, Stiftungen, Kampagnen, bis hin zu Gewerkschaften ist alles vertreten. Eine davon ist "SI", die "Solidaritat Catalana per la Independència" (Katalanische Solidarität für die Unabhängigkeit), bei der Mallol Mitglied ist.

Es handelt sich um einen politischen Zusammenschluss, der mit Demonstrationen und diversen anderen Aktionen versucht, den Unabhängigkeitskampf voranzutreiben und immer mehr Leute von seiner Notwendigkeit zu überzeugen. Vor allem den jungen Leuten spielt die steigende Präsenz von Social Media und Onlinejournalismus mehr in die Hände. Selbstverständlich nutzt auch "SI" Portale wie Facebook.

"Wir sind keine Spanier und Spanisch ist nicht unsere Muttersprache. Alles was wir tun ist, für unser Land und unsere Kultur einzutreten, um für unsere Kinder eine bessere Zukunft zu gestalten", stellt Mallol klar.

Er glaubt fest daran, dass die Unabhängigkeit der Region von Spanien und eine damit einhergehende Eigenbestimmung in zwei oder drei Jahren möglich sein kann. Bis dahin wollen sich die Jugendlichen weiter für ihr Ziel einsetzen. Das bedeutet: die Demonstrationen stetig vergrößern (vor allem jene am Nationalfeiertag), dem Parlament Druck machen, die Leute auch im Ausland auf die Situation aufmerksam machen und - friedlich - für die Möglichkeit eines legalen Referendums kämpfen.

"Ein Stück Papier oder Plastik sagt nichts über meine wahre Identität aus", ist Mallol überzeugt. Der 21-jährige hat einen spanischen Pass - wie alle Katalanen -, ihm selbst jedoch ist Spanien ideologisch, wirtschaftlich und kulturell fremd. "Stierkämpfe, Flamenco, das alles hat nichts mit meiner Kultur zu tun."

Der Wunsch nach Unabhängigkeit sei erst die Reaktion einer im 20. Jahrhundert durch das Franco-Regime unterdrückten Region, könnte man meinen.

Doch die Selbstbestimmung ist seit Jahrhunderten ein Thema. Bis ins 15. Jahrhundert waren Kastilien und Katalonien die vorherrschenden Mächte auf der iberischen Halbinsel. 1469 wurde Isabella von Kastilien mit Ferdinand von Aragon verheiratet und vereinigte somit beide Königreiche zu einem. 1700 kam es nach dem Tod des letzten Habsburgers zum Erbfolgekrieg. Die Spanier wollten einen Bourbonen-Herrscher an der Macht sehen, die Katalanen hingegen setzten sich mit aller Kraft gegen die französische Herrschaft zur Wehr. Der Krieg, endete mit der Niederlage der Katalanen am 11. September 1714.

Der 11. September, ein Tag, mit dem die meisten heute den Terroranschlag auf das World Trade Center verbinden, ist in Katalonien als Erinnerung an den herben Rückschlag bis heute der Nationalfeiertag und Anlass zu jährlichen Demonstrationen. "Viele können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn dir deine Kultur, deine Sprache, dein ganzes Sein genommen wird", erinnert sich der 71-jährige Pere Rodriguez aus Terrassa an die jahrzehntelange Herrschaft von Francisco Francos, des "Caudillo". Mit dem Tod Francos endete auch die Diktatur, es kam zur Übergangsphase zur bis heute bestehenden parlamentarischen Monarchie.

1978 wurde die aktuelle Verfassung festgesetzt, in der es heißt, jeder Spanier habe die Pflicht, Spanisch zu können, in den jeweiligen autonomen Regionen haben jedoch die Minderheitensprachen ko-offiziellen Status.

80 Prozent bei dem verbotenen Referendum für Abspaltung

"Si", "No", "No sé" (Ja - Nein - Keine Ahnung): Auf die Frage, ob sie eine Abspaltung vom spanischen Staat befürworten, sind sich die Katalanen nicht immer einig. Bereits 2014 wurde ein symbolisches Referendum durchgeführt, welches mit einer klaren Mehrheit für die Abspaltung endete, jedoch auch zeigte, dass das nicht die Meinung aller Katalanen ist. Bei der vom spanischen Verfassungsgericht eigentlich untersagten Abstimmung votierten bei einer Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent 80,1 Prozent dafür und 4,6 Prozent dagegen. 10,1 Prozent sprachen sich für die Bildung eines katalanischen Staates aus, der aber weiterhin zu Spanien gehören sollte.

Was aber sind die Vor- und Nachteile eines möglichen "katalanischen Exits"? Die autonome Region erbringt mit ihren 7,5 Millionen Einwohnern ein Fünftel der spanischen Wirtschaftsleistung. Die Befürworter der Unabhängigkeit argumentieren, dass es Katalonien ohne Transferzahlungen an ärmere Regionen Spaniens besser ginge. In einem unabhängigen Staat könnte mehr in Bildung, Krankenhäuser, Ausbildung und Pensionen investiert werden.

Neuer katalanische Premier Puigdemont nährt die Hoffnung

Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy warnt hingegen, dass die Abspaltungspläne Katalonien in die Rezession stürzen und eine Kapitalflucht auslösen könnten. Die Region wäre zumindest vorerst nicht mehr Mitglied der EU. Damit fielen auch die Personenfreizügigkeit und der freie Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr weg. Experten befürchten schwerwiegende wirtschaftliche Folgen.

Spaniens Notenbankchef Luis Maria Linde hat bereits gewarnt, bei einer Abspaltung werde die Europäische Zentralbank (EZB) die Banken der Region nicht mehr mit Geld versorgen. Dabei hat mit La Caixa eine der größten Banken Spaniens ihren Sitz in der katalanischen Hauptstadt Barcelona.

Bei den Regionalwahlen in Katalonien im Jänner hatten aber klar die Befürworter der Abspaltung die Mehrheit: Carles Puigdemont vom "Junts pel Sí"-Bündnis, das rechtsgerichtete separatistische Parteien mit den Stimmen der linksgerichteten Separatisten von CUP (Candidatura d’Unitat Popular) vereint, trat die Nachfolge des langjährigen Präsidenten Artur Mas an.

Puigdemont ist bekennender Nationalist, dessen erklärtes Ziel der eigene Staat ist, den er in "18 Monaten", wie es bei seinem Amtsantritt hieß, durchboxen will - inzwischen ist ein halbes Jahr schon verstrichen. Als "Kloake" bezeichnete er Spanien jüngst. Sein Vorgänger Mas wurde erst kürzlich aufgrund der Durchführung des nicht genehmigten Referendums angeklagt.

Bei der Wiederholung der bundesweiten Wahlen in Spanien gewannen allerdings wieder die konservative Partei Partido Popular (PP) von Mariano Rajoy, ein ausgesprochener Gegner der katalanischen Unabhängigkeit. "Wir werden keine Aktivität durchgehen lassen, die sich gegen die
Einheit und Souveränität dieses Landes stellt", so Rajoy. "Wir werden uns mit allen Mechanismen, die das Gesetz uns bietet, verteidigen."

Es ist trotz Brexit-Votums höchst fraglich, ob Puigdemonts Plan, in den nächsten Monaten die Unabhängigkeit zu erreichen, durchführbar ist. Ein paar seiner Anhänger wollen jedenfalls weiter daran glauben. Am 11. September, wird heuer trotzdem wieder auf den Straßen Barcelonas zu hören sein: "Som un poble, som una nacio. Visca Catalunya lliure!" (Wir sind ein Volk, wir sind eine Nation. Es lebe das freie Katalonien).