Danzig. In der Straße des Zarenkämpfers Stefan Batory auf dem Villen-Hügel von Danzig sitzt der russische Generalkonsul und versteht die Welt nicht mehr. Unten in der Bucht brütet ein Professor über Unterlagen, die keinen Sinn ergeben. Weder in kyrillischen noch in lateinischen Lettern. Und in Sopot, dem polnischen Badeort nur wenige Kilometer von Danzig entfernt, zählt ein Restaurantmanager die russischen Gäste. An einem Finger.
Alexander Karatschewtsew, Tadeusz Palmowski und Tomasz Strzelecki, es sind drei Männer, die sich nicht kennen und die doch verbunden sind in diesen Tagen, seit die polnische Regierung im Sommer beschlossen hat, den Menschen aus der Oblast Kaliningrad die visafreie Einreise nicht mehr zu erlauben. Kaliningrad, das ehemalige Königsberg, das rund 160 Kilometer von Danzig (Gdansk) liegt, ist russisches Territorium, die gleichnamige Oblast eine russische Enklave von EU-Ländern umschlossen, hunderte Kilometer weg vom Mutterland. Ab 2012 ermöglichte ein bilateraler Vertrag - der "kleine Grenzverkehr" - die unkomplizierte Einreise von Kaliningradern in die polnischen Nachbarregionen und dasselbe für Polen in die Oblast. Ohne Visum, ohne Einladung, ohne hohe Kosten.
Eine Genehmigung mit Passfoto reichte den Bewohner eines festgesteckten Radius - in Polen die Woiwodschaften Pommern und Ermland-Masuren, auf der anderen Seite die gesamte Oblast Kaliningrad -, um die Grenze zu übertreten. Was auf politischer Ebene als Meilenstein in den von Misstrauen gezeichneten Beziehungen zwischen Polen und Russland als ein wichtiger Schritt in Richtung Neuanfang gefeiert wurde, wirkte in den Alltag der Menschen ein: So brachte der kleine Grenzverkehr den Geschäften und der Gastronomie Einnahmen, den Sehenswürdigkeiten Besucher, ja, er baute die Grenze ein Stück weit ab. Er tut es nicht mehr.
Denn vor kurzem hat die polnische Regierung unter der Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Visafreiheit aufgehoben. Eigentlich hätten die Sicherheitsvorkehrungen nur für einen Monat, während des Nato-Gipfels in der Hauptstadt und des Papstbesuchs in Krakau im Juli, verschärft werden sollen. Doch die Nato-Delegationen und der Pontifex waren schon längst wieder abgereist, der Visumzwang an der russisch-polnischen Grenze blieb trotzdem bestehen. Das Innenministerium begründete die Entscheidung mit Sicherheitsbedenken. Welcherart erläuterte Warschau nicht. Karatschewtsew, Palmowski und Strzelecki wollen nicht recht daran glauben. Und so geht es vielen hier.
Handel und Gastronomie leiden unter ausbleibenden Russen
Warum aber lässt die polnische Seite eine Maßnahme fallen, die dem Landstreifen eine leidliche Entwicklung ermöglichte, die von allen Seiten - vor allem von der EU - gelobt wurde und die als Arbeitsbühne dienen könnte, für die Beziehungen zwischen der Brüssel und Moskau insgesamt?
Der polnische Nordosten, der an die Ostsee und an die Grenze zu Kaliningrad stößt, das ehemalige Ostpreußen, hat wirtschaftlich größtenteils den Anschluss verpasst: Wo eine größere Kleinstadt zusammenkommt, stehen Plattenbauten, als hätte einer riesige Legowürfel verteilt, die Dörfer verbinden Landstraßen, von kilometerlangen Alleen gesäumt. In Jahrhunderten der Mühe haben die Menschen den kargen Böden eine satte Landschaft abgerungen. Die Menschen leben von der Landwirtschaft oder von staatlichen Zuwendungen, eine Industrie hat es nie gegeben und Arbeitsplätze schafft nur der Tourismus - und auch der zu wenige. Wenn hier jemand investiert, dann tut er es mithilfe von EU-Förderungen. Selbst beim neuen Pier im altehrwürdigen Badeort Sopot hat Brüssel mitgezahlt.
In der Sopoter Fußgängerzone lädt Tomasz Strzececki in den ruhigen, hinteren Teil seines Lokals. Nötig wäre das nicht. Auch auf der großzügigen Terrasse der "Restauracja U Kucharzy" haben sich nur eine Handvoll Hungrige niedergelassen. Steak Tartare und Champagner? Russen bestellen so etwas nicht mehr. Russen bestellen gar nichts mehr. Wo Strzelecki früher zehn Prozent des Umsatzes mit Gästen aus dem Nachbarland gemacht hat, verirrt sich heute vielleicht noch ein Kaliningrader zu ihm. Existenzbedrohend ist dieser Rückgang nicht, weh tut er dennoch. "Ich hoffe, die Regierung hat einen Plan", sagt der Restaurantmanager, und seine Tonlage verrät, dass er sich dessen nicht ganz sicher ist.
Die Gastronomie leidet unter den ausbleibenden Russen, keine Frage. Noch stärker aber trifft es den Handel. In der Grenzstadt Bartoszyce haben sich an der Bundesstraße Geschäfte wie Perlen an einer Kette aufgefädelt und für die Nachbarn herausgeputzt. Teppiche, Schönheitsartikel, Möbel - alles auf Kyrillisch angeschrieben und mit einem "tax free"-Hinweis ausgestattet. Auch die Filialen der großen Lebensmittelketten Biedronka und Lidl sollen im Grenzgebiet besonders gute Umsätze gemacht haben.
70 Millionen Euro pro Jahr, so Schätzungen, haben Kaliningrader in Polen ausgegeben. Die polnischen Regale boten vor allem nach den Sanktionen eine breite Produktpalette, die es in der Oblast, die ihre Lebensmittel aus dem Mutterland importieren muss, nicht oder nur in schlechterer Qualität zu finden gab. Lebensmittel, aber auch Baumaterial und Elektronikgeräte, Ikea-Möbel und der Badeurlaub - die Kaliningrader hatten sich gut mit einem Fuß in der EU eingerichtet. Ein Tagestrip nach Polen gehörte für sie zum Alltag. Umgekehrt fuhren Polen nach drüben, um billigen Sprit zu tanken und Zigaretten zu kaufen.