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Wohnungswettlauf in Berlin

Von WZ-Korrespondentin Saskia Hödl

Politik

Der Zuzug in die deutsche Hauptstadt ist seit Jahren ungebrochen, die Bautätigkeit kann nicht Schritt halten. Unsere Korrespondentin schildert ihre Erfahrungen bei der Wohnungssuche.


Berlin. Die Holztreppe knarrt unter dem Kokosteppich, als ich wieder einen Schritt Richtung Wohnung rücken darf. Es ist Freitagvormittag in Berlin-Neukölln. Mein Freund und ich konnten uns für die Besichtigung freinehmen und außer uns offenbar noch 150 weitere Menschen, die hier gerne wohnen würden. Und das, obwohl wir hier außerhalb des Stadtbahnrings sind - was als Wohnadresse in Berlin bis vor kurzem in etwa so belächelt wurde wie Simmering in Wien. Doch es kommen immer mehr Leute nach Berlin - nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch aus dem Ausland. Im Jahr 2015 ergab der Berlinboom ein Einwanderungssaldo von 46.000 Menschen. Und das ist nicht nur auf Flüchtlinge zurückzuführen, sondern auch auf EU-Bürger. Kurz gesagt: Für eine Wohnung, die nicht im Erdgeschoß liegt mit Blick auf Mülltonnen oder vorbeibretternde Autos, verkauft man in Berlin inzwischen seine Seele.

Anrücken mit der Bewerbungsmappe

In dem Altbau in Neukölln wird es stickig. Das bunte Bleiglasfenster im Halbstock lässt sich nicht öffnen. Es sind viele Paare und WGs gekommen, einige haben Babys dabei, alle sehen nach Mittelschicht aus. Vor dem Haus ist ein großer Platz mit ein paar Bäumen, rundherum eine Handvoll Kneipen, wo noch "Icke" gesagt wird. Angeblich wohnen hier Leute in ihren Autos. Nebenan führt eine Brücke eine Reihe von S-Bahn-Schienen und die Hauptverkehrsstraßen sind auch nicht weit. Aber: Dachgeschoß und immerhin noch in Neukölln.

Aus dem Geländer vor der Wohnungstür fällt ein Stück auf die Treppe vor uns. Niemand wird getroffen. Eine Frau murmelt: "Toll, das Loch im Geländer ist jetzt groß genug, dass gleich zwei Kleinkinder durchfallen können." Um kurz vor zwölf sind wir unter den letzten fünf Personen, die nach einer Stunde des Wartens in die Wohnung gelassen werden. Dass weitere 70 Leute schwitzend im Treppenhaus stehen, kümmert hier niemanden.

Die Wohnung wird im Schnelldurchlauf gezeigt und was als Drei-Zimmer-Wohnung mit Dachterrasse angekündigt war, entspricht zwei Zimmern und einem Vorzimmer samt einem Kunstrasenbalkon. Und: Fünf Prozent Staffelmiete ab dem zweiten Jahr. Bei 700 Euro netto für 80 Quadratmeter wirkt das erst nicht viel, 35 Euro mehr pro Jahr. Aber wer länger hier wohnen will, zahlt bald eine horrende Summe für ein Vorzimmer mit Weitblick. Das in Ruhe abzuwägen, ist hier nicht gern gesehen, deshalb bekommt die Wohnung nur, wer auf der Stelle ins Büro der Verwaltung läuft, um mit Bankomatkarte die Kaution von drei Nettomieten und die erste Monatsmiete zu zahlen. Das ist der Deal. Ein Wettlauf zur Schlachtbank. Dass die Wohnung erst in zwei Monaten beziehbar ist, kümmert hier niemanden.

Zwei Straßen weiter hängt ein Wahlplakat der SPD: "Berlin bleibt bezahlbar. 100.000 neue städtische Mietwohnungen", verspricht der noch regierende Bürgermeister Michael Müller da, denn am 18. September ist die Wahl zum Abgeordnetenhaus. Ein lange überfälliges Versprechen, denn seit Ende 2015 hat Berlin erstmals seit 1944 wieder über 3,5 Millionen Einwohner. Es waren gut 50.000 Menschen mehr als zu Jahresbeginn. Die Zahl der Wohnungen wuchs im selben Zeitraum jedoch nur um rund 10.900. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat errechnet, dass Berlin bei anhaltendem Bedarf etwa 31.000 Wohnungen pro Jahr bauen müsste.

Der Wohnungsmarkt ist deshalb ein Hauptthema des Wahlkampfes, neben dem beispiellosen Chaos in der Berliner Verwaltung, den Flüchtlingen und dem "neuen" Flughafen BER, der allein bis 2015 schon 2,6 Milliarden Euro an "zusätzlichem Kapitalbedarf" geschluckt hat und der - hoffentlich, ganz wirklich und jetzt im Ernst - im Herbst 2017 eröffnet wird.

Das "bezahlbar bleiben" von Müller ist ein Schlag ins Gesicht für Wohnungssuchende, die von Termin zu Termin rennen, um sich mit Freiberuflern, Normal- und Geringverdienern, Zugezogenen, Alleinerziehenden und Jungfamilien um die wenigen bezahlbaren Wohnungen mit Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel regelrecht zu prügeln. Denn in Berlin ist es bisweilen üblich, zur Besichtigung mit Mappen voller Dokumenten aufzutauchen: vom Einkommensnachweis über einen Schrieb des Vorvermieters, den Lebenslauf und die Kreditwürdigkeit - bis hin zum polizeilichen Führungszeugnis. Aus einer Studie der Investitionsbank Berlin (IBB), die der Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) im März vorstellte, geht hervor, dass es günstige Mieten nur noch in Spandau oder Marzahn-Hellersdorf gibt. Das sind jeweils Außenbezirke im Westen und Osten - der eine beliebt unter Pensionisten, der andere unter Neonazis. Beide sind ohne Auto nur mühsam erreichbar. Für die Wohnungsnot macht Geisel auch die Grundstücksspekulanten verantwortlich, die kaufen und wieder verkaufen, ohne jemals zu bauen.

Die in ganz Berlin gültige Mietpreisbremse sollte bewirken, dass Wohnungen bei Neuvermietung nicht mehr als zehn Prozent über dem Mietspiegel liegen dürfen. Außerdem wurde das Bestellerprinzip eingeführt, nach dem den Makler bezahlt, wer ihn bestellt. Vor ein paar Monaten ging auch die Übergangsregelung für das Zweckentfremdungsverbot zu Ende, was bedeutet, dass in Berlin Wohnungen nur noch mit Erlaubnis als Ferienwohnungen vermietet werden dürfen. Laut Schätzungen gab es davor etwa 12.000 Ferienwohnungen in Berlin, die meist über die Plattform Airbnb an Touristen vermietet wurden.

Trotz Mietpreisbremsesteigen die Preise weiter

Nach einem Jahr Mietpreisbremse fällt das Fazit ernüchternd aus: Wäre der Berliner Wohnungsmarkt ein Fahrzeug, er wäre eine Seifenkiste, die unkontrolliert einen Abhang hinunterrast. Denn die Mietpreisbremse greift in vielen Fällen gar nicht - bei möblierten Objekten, Neubauten, nach Modernisierung und auch bei bereits geschlossenen Staffelmietverträgen. Auch lag es bisher beim Mieter, zu prüfen, wie viel mehr er bezahlt als der Vormieter. Dazu muss der Vertrag aber erst unterschrieben werden, denn wer schon vor Vertragsabschluss unangenehme Fragen stellt, wird schnell aussortiert.

Ein anderes Problem ist, dass Berlin im Gegensatz zu Wien den sozialen Wohnungsbau lange vernachlässigt hat und beim Anblick des Wiener Modells mit 220.000 Gemeindewohnungen und ähnlich vielen geförderten Wohnungen nur noch schamvoll erröten kann. Man hat den Wohnungsbau schlicht zu lange dem Markt überlassen. Eine Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Und auch wegen des Brexit legt man in Berlin die Stirn in Falten. Denn was tun die Londoner Kreativen, die Start-ups und die etablierten Unternehmen, wenn sie den Anschluss an die EU nicht verlieren wollen? Genau: Sie liebäugeln mit einem Umzug nach Berlin, was die Immobilienpreise noch weiter in die Höhe treiben dürfte.

Vielen Berlinern bleibt aber schon jetzt nichts anderes übrig, als an den Stadtrand zu ziehen, wenn sie sich finanziell nicht komplett verausgaben wollen. Auch mein Freund und ich verlassen deshalb die Szenebezirke der inneren Stadt. Nachdem wir uns noch mehrere mäßig bis unverschämt teure Wohnungen und "Bastlerträume" angesehen haben, ziehen wir nun nach Alt-Tegel in Reinickendorf, einem Stadtteil im Norden Berlins. Alt-Tegel ist die Endstation der U6, das ist die U-Bahnlinie, die Berlin von oben nach unten durchquert. Hier gibt es weniger Autos, weniger Menschen, einen wunderbaren See und einen Wald vor der Tür. Wir haben einen netten privaten Vermieter gefunden, der einen fairen Preis verlangt und sich zwischen den vielen Bewerbern zum Glück für uns entschieden hat, weil er denkt, dass wir gut ins Haus passen.

Die Infrastruktur ist hier besser als in den meisten Außenbezirken. Trotzdem werden die Wege jetzt länger, gerade wenn man kein Auto besitzt. Damit müssen wir umgehen. Und können nur hoffen, dass es die künftige Regierung schafft, endlich ein angemessenes Netz an befahrbaren Radwegen zu schaffen, Carsharing außerhalb der Innenbezirke zu fördern und das Jahresticket für die Öffis zu verbilligen - denn das kostet mit 761 Euro im Jahr doppelt so viel wie in Wien. Der einzige Weg, der für uns jetzt kürzer wird, ist jener zum Flughafen Tegel, der etwa vier Kilometer Luftlinie südlich von unserer neuen Wohnung liegt. Fluglärm haben wir zum Glück keinen, da die Einflugschneise östlich vom Flughafen liegt. Bringt aber alles nichts, denn der Flughafen sperrt ja sowieso bald zu. Ganz im Ernst jetzt.