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Merkels entscheidende Monate

Von Alexander Dworzak

Politik

Analyse: Hausgemachte Probleme bei SPD und CDU in Berlin sind verantwortlich für deren Wahldebakel in der Hauptstadt.


Berlin/Wien. Wenn Angela Merkel an einem Montag nach einer Wahl einen Blumenstrauß erhält, ist es ein guter Tag für sie und ihre Partei. Dann hat die CDU die Bundestagswahl gewonnen. So geschehen 2005, 2009 und 2013. Fast immer, wenn Angela Merkel montags Bouquets überreicht, gibt es schlechte Nachrichten. Dann hat die CDU wieder einmal eine Regionalwahl verloren. Früher perlten solche Misserfolge an Merkel ab. Mit Beginn der Flüchtlingskrise mutierten aber Landtagswahlen zu Abstimmungen über ihren Asylkurs, zehrten am Nimbus der scheinbar unstürzbaren Kanzlerin. Die Liste der Misserfolge 2016 ist lang: Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Am Montag hatte Berlins Innensenator Frank Henkel das zweifelhafte Vergnügen der Merkelschen Blumenspende. Nur 17,6 Prozent erreichten die Konservativen bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus tags zuvor.

Zeit also für Merkel, wieder ihre Flüchtlingspositionen zu verteidigen. Die CSU-Forderung nach höchstens 200.000 Asylwerbern pro Jahr lehnte sie als "statische Obergrenze" ab. Gleichzeitig relativierte Merkel zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit ihre Aussage "Wir schaffen das" zur "Leerformel". Und wie nach jeder CDU-Wahlniederlage geht CSU-Chef Horst Seehofer mit der Schwesterpartei hart ins Gericht: "Es ist ja nicht nur die Zuwanderungsfrage, es geht von Steuern, Finanzen, Rente, Sicherheit bis hin zu Europa und Wirtschaft."

Das schlechteste Abscheiden der CDU in Berlin nach 1945 ist in erster Linie jedoch nicht der Flüchtlingsdiskussion geschuldet. Soziale Gerechtigkeit wurde im Westen und Osten Berlins von jeweils der Hälfte der Bürger als wahlentscheidendes Thema genannt, die Flüchtlingsfrage war es nur für je 25 Prozent (Mehrfachnennungen möglich). Vielmehr ist die Stadtregierung aus SPD und CDU an ihrer eigenen Unfähigkeit - und an schwierigen Rahmenbedingungen - gescheitert, die drängenden Probleme endlich zu lösen. So sagen 70 Prozent der Bürger, in der 3,5-Millionen-Metropole werde zwar viel gebaut. Aber nicht, wo es nötig wäre. Da Berlin noch immer 59 Milliarden Euro Schulden drücken, dominiert der freifinanzierte Wohnungsneubau. Der Zuzug ist hoch, die Mietpreisbremse funktioniert nicht, daher sind die Wohnungspreise in den vergangenen Jahren explodiert. SPD-Bürgermeister Michael Müller und CDU-Mann Henkel haben beim Sparen die Geduld der Wähler überstrapaziert. Mehr als zwei Drittel der Bürger ärgern sich über die "unfähige Verwaltung". Bedienstete fehlen, Bürger müssen monatelang auf Termine bei den Ämtern warten. "Egal wer regiert, keiner bekommt Probleme in den Griff", lautet daher das Fazit von 61 Prozent der Bürger laut Wahlanalyse von Infratest dimap für die ARD.

Scheinbar benachteiligtund systemskeptisch

Die Alternative für Deutschland (AfD) schneidet zwar nicht so gut ab wie in Mecklenburg-Vorpommern vor zwei Wochen. Im Nordosten erreichten die Rechtspopulisten knapp 21 Prozent und überholten die CDU. Zwischen der Metropole und dem dünn besiedelten Landstrich gibt es aber zwei frappierende Parallelen: In beiden Bundesländern stimmte lediglich ein Viertel der AfD-Wähler aus Überzeugung für die Rechtspopulisten. Und egal, ob in Berlin, wo eine Million Menschen mit Migrationshintergrund leben, oder im ethnisch fast homogenen Mecklenburg-Vorpommern: Jeweils 83 Prozent der AfD-Wähler meinten, für Flüchtlinge werde mehr getan als für Einheimische.

Die Anti-System-Haltung und das Gefühl, benachteiligt zu werden, sind insbesondere im Osten der Bundesrepublik noch immer weit verbreitet. Folgerichtig schneidet die AfD im ehemaligen Ost-Berlin deutlich besser ab als im Westen. Auch für die Linkspartei ist Ost-Berlin ein traditionell ein guter Boden. 2016 ist sie dort die stärkste Partei überhaupt (siehe Grafik). Im Bezirks-Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf 1 stieg die AfD zur stärksten Kraft auf, zusammen mit der Linken kamen beide Parteien auf 54,5 Prozent aller Stimmen. Im benachbarten Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf 2 führt die Linke vor der AfD.

Der Linken als selbsternannten "Kümmererpartei" kam die Wohnungsdebatte entgegen. Bürgermeister Müller braucht nun neben seinem grünen Wunschpartner noch eine Partei für eine stabile Regierung. Rechnerisch ginge es auch mit der FDP, die mit der Forderung nach Offenhaltung des Flughafens Tegel einen Nerv getroffen hat. Wesentlich wahrscheinlicher ist aber Rot-Rot-Grün. Als Testlauf für ein solches Bündnis nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 kann Berlin aber nicht gelten. In außen- und sicherheitspolitischen Fragen bis hin zur Nato-Mitgliedschaft ist die Linke weiterhin Rot-Grün fremd.

Anders als die Linke reüssierte die AfD in Berlin bei ehemaligen Nichtwählern. 30 Prozent ihrer Berliner Wähler stammen aus diesem Segment, frühere CDU-Wähler - oft unzufrieden mit Merkels Flüchtlingspolitik - machen lediglich 17 Prozent aus. Jene Enttäuschten finden bei der Alternative für Deutschland eine neue Heimat. Es ist ein Zusammenschluss der Fürchtenden: Nicht nur denken neun von zehn von ihnen, Berlin sei unsicherer geworden (CDU-Anhänger folgen mit 50 Prozent). Den Islam sehen 82 Prozent als Gefahr für Deutschland (CDU: 43 Prozent).

Merkel muss daher Integrationspolitik viel weiter denken. Bisher kommuniziert die Regierung Flüchtlingspolitik primär in Form von Sicherheitspolitik. Die Kanzlerin gesteht lediglich Fehler beim "unkontrollierten und unregistrierten Zuzug" 2015 ein, erklärt aber weiter nicht, wie das Zusammenleben mit Personen gelingt, die aus nicht-demokratischen Ländern stammen, in denen Clanstrukturen weit verbreitet und Frauenrechte unbekannt sind. Dazu hat sie bis spätestens 14. Mai 2017 Zeit, dann wählt das mit knapp 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsstärkste Bundesland Nordrhein-Westfalen einen neuen Landtag. Reüssiert die AfD dort auch, ist in der CDU die Palastrevolte gegen Merkel nah. Blumen zum Abschied inklusive.