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Das Problem mit dem Souverän

Von Thomas Seifert

Politik

Referenden haben Tücken, das zeigen der Brexit, der ungarische Urnengang und der Farc-Volksentscheid in Kolumbien.


Wien. Lange nicht mehr hatte Vox Populi, des Volkes Stimme, so viel Gewicht wie derzeit. Die Schweizer stimmten im Februar 2014 der Eidgenössischen Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" zu, die Griechen sagten im Juli 2015 "Oxi" - "Nein" - zu den Sparplänen aus Brüssel, die Briten stürzten sich am 23. Juni 2016 ins Brexit-Abenteuer, die Ungarn stimmten am vergangenen Wochenende über die Pläne Brüssels, Flüchtlinge über Europa zu verteilen, ab und die Bürger Kolumbiens erteilten dem Friedensabkommen zwischen Bogotá und der Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, auf Deutsch Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) überraschend eine Absage. Und derzeit sieht es so aus, als würden die Italiener ihrem Premier Matteo Renzi bei seinen Plänen, die Verfassung zu ändern, bei einem Referendum im Dezember nicht folgen.

Wenn Vox Populi, Gehör findet, dann ist das in den Augen der Fans von Referenden und Volksbefragungen wahre Demokratie, denn Demokratie bedeutet schließlich Demos - "Volk" und kratós "Macht" oder "Herrschaft". Was liegt also näher, als das Volk direkt zu befragen, anstatt den mühevollen, von Kompromissen gepflasterten Weg durch Gremien, Ausschüsse und Plenartagungen zu gehen? Schließlich hat - auch das ist ein Dogma von Direkt-Demokratie-Aficionados - der Souverän immer recht.

Das Dumme ist nur: Der Souverän kann sich oft nicht entscheiden, gibt Antworten auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden, oder entscheidet aus dem Bauch, wo es rationale, kühle Abwägung aller Argumente bräuchte. Manchmal sendet der Souverän überhaupt widersprüchliche Signale aus.

Brexit-Blues

Beispiel Brexit: Anstatt den britischen Bürgern das notwendige Argumentarium über das Für und Wider einer britischen EU-Mitgliedschaft an die Hand zu geben, haben die Brexit-Befürworter mit Unwahrheiten und Angstpropaganda operiert - ein echtes Interesse an einer ernsthaften Debatte vor dem Referendum Ende Juni hatte weder der konservative mittlerweile als Justizminister zurückgetretene Michael Gove noch der damalige konservative Ex-Bürgermeister von London und heutige Außenminister Boris Johnson, und schon gar nicht der rechtspopulistische damalige Parteichef der britischen EU-Austrittspartei Ukip (UK Independence Party), Nigel Farage. Mit dem "Ja" zum Brexit hat sich Großbritannien zudem eine schwere Verfassungskrise eingehandelt: Denn das Referendum hat de jure keine bindende Wirkung, das britische Parlament wäre demnach in seinen Entscheidungen weiterhin frei. In Westminster sind im Unterhaus zudem jene Abgeordneten in der Mehrheit, die einem Brexit ablehnend gegenüberstehen. Wird - wonach es jetzt aussieht - das Parlament bei den Entscheidungen über Brexit an den Rand gedrängt, bedeutet das eine Aushöhlung des Parlamentarismus, den Volksentscheid aber einfach zu ignorieren, könnte sich das britische Unterhaus niemals leisten. Das Problem: Der Souverän ist schizophren. Ins Parlament hat er Abgeordnete gewählt, die den Brexit partout nicht wollen, im Referendum haben die Bürger sich mit 51,9 Prozent für den Brexit ausgesprochen. Der Bürgerentscheid ist mit dem Wahlergebnis inkompatibel.

Ungarns unnötiger Urnengang

Das von Viktor Orbán initiierte Referendum in Ungarn war eine Farce. Die Regierung machte in Inseraten und auf Plakaten massiv Stimmung, die Suggestivfrage auf dem Stimmzettel lautete: "Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?" Trotz der Regierungspropaganda stimmten nur 40,4 Prozent statt der erforderlichen 50 Prozent der wahlberechtigten Ungarn gültig ab, das Referendum ist daher - trotz einer 98,3-prozentigen Ablehnung der gestellten Frage - nach ungarischem Recht ungültig. Letztlich ist dies Orbán aber völlig egal: Nach der Niederlage beim gescheiterten Referendum plant der Chef der rechtspopulistischen Fidesz-Partei jetzt erst recht eine Verfassungsänderung, in der festgeschrieben werden soll, dass die EU Budapest keine Aufnahme von Migranten vorschreiben kann.

Beim Referendum über den Sparkurs in Athen mussten die Griechen erleben, dass ihr "Nein" nicht viel wert war: Premier Alexis Tsipras musste sich, "Oxi" hin oder her, dem Sparplänen Brüssels beugen.

Im Falle der "Volksinitiative gegen Masseneinwanderung" in der Schweiz müssen die Eidgenossen einen Kompromiss mit der Europäischen Union finden: Denn Brüssel beharrt auf dem Prinzip der Personenfreizügigkeit. Sollte die Schweiz diese für EU-Bürger einschränken, könnte das Land im Gegenzug den Marktzugang zum lukrativen europäischen Markt verlieren, die sogenannten bilateralen Verträge stehen auf dem Spiel.

Referenden haben zweifellos ihren Platz in der Demokratie - vor allem wenn die Bürgerschaft die Vor- und Nachteile eines Volksentscheids abschätzen kann und die Argumente sachlich diskutiert werden. Aber Volksabstimmungen sind gleichzeitig allles andere als unproblematisch: Die Antworten sind binär, die Polarisierung einer Gesellschaft wird verstärkt, es gibt nur ein "ja" oder "nein", es fehlt der Raum für Kompromisse. Schon Plato warnte, dass eine Demokratie in Reinform in die Tyrannei münden könnte, nämlich indem die Mehrheit der Minderheit ungezügelt ihren Willen aufzwingt.