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Die baskischen Wunden sind geblieben

Von WZ-Korrespondent Manuel Meyer

Politik

Vor fünf Jahren beendete die Terrorgruppe ETA ihren Kampf für die Unabhängigkeit des Baskenlandes.


San Sebastián/Bilbao. Ruhig schaukeln Segelboote in der Bucht von San Sebastián. Es ist ein sonniger Herbsttag. Familien, Pensionisten, verliebte Pärchen flanieren gemütlich über die Strandpromenade am Rande der Altstadt.

Auch viele Touristen füllen die Terrassen auf der Strandpromenade, genießen den Blick aufs Meer und die friedliche Idylle. Ganz normal, müsste man denken. Immerhin zählt das Küstenstädtchen im nordspanischen Baskenland mit seiner traumhaften Lage im Golf von Biskaya zu den schönsten Städten Spaniens. In diesem Jahr ist San Sebastián auch noch Europäische Kulturhauptstadt.

Doch vor einigen Jahren waren Urlaubermassen wie heuer in San Sebastián gar nicht so normal. "Viele Ausländer, aber auch Spanier aus anderen Regionen, haben unsere Stadt wegen des ETA-Terrors gemieden", erzählt Bürgermeister Eneko Goia. Fast 830 Menschen fielen dem über 40 Jahre andauernden Kampf der Terrororganisation für die Unabhängigkeit des Baskenlandes von Spanien zum Opfer. Ihr Kommando in San Sebastián gehörte zu den blutigsten. Autobomben, Nackenschüsse und Entführungen waren keine Seltenheit.

Am 20. Oktober 2011, vor genau fünf Jahren, erklärten die Separatisten ihren "bewaffneten Kampf" jedoch endlich für beendet. Offiziell aufgelöst hat sich ETA aber noch nicht. Die heute friedliche Atmosphäre des Seebads täuscht also. "Der ETA-Terror, die Angst und die Spaltung der Gesellschaft in Separatisten und sich spanisch fühlenden Basken haben tiefe Wunden und Risse in der Bevölkerung hinterlassen, die noch lange nicht geschlossen sind", diagnostiziert María Silvestre, Soziologin an der Deusto-Universität in Bilbao.

Hört man Consuelo Ordóñez zu, versteht man schnell, was genau Silvestre meint. Die Sprecherin der Terror-Opfervereinigung Covite ärgert sich, dass wieder einmal viele Zeitungen über die jüngste Massendemo in San Sebastián berichtet haben. Tausende Menschen zogen vergangenen Samstag durch das Zentrum der 186.000 Einwohner-Stadt und protestieren für die Freilassung von kranken ETA-Häftlingen und die Zusammenlegung der ETA-Insassen in baskischen Gefängnissen. Lautstark klagten die Familienangehörigen der rund 390 immer noch inhaftierten Etarras, wie die ETA-Mitglieder genannt werden, für die Achtung der Menschenrechte ihrer "politischen Gefangenen".

"Eiskalte Mörder, Abschaum"

"Ich könnte bei solchen Szenen kotzen. Politische Gefangene? Das sind eiskalte Mörder, Abschaum", flucht Consuelo Ordóñez. Das Baskenland sei die einzige Region in Europa, in der Terroristen täglich auf den Straßen geehrt und Opfer marginalisiert würden. "Solange sich das nicht ändert, kann es keinen Frieden, keine Vergebung geben", sagt Ordóñez vehement. Vor zwanzig Jahren verlor sie ihren Bruder Gregorio. ETA-Terroristen erschossen ihn in San Sebastián auf offener Straße. Als Vizebürgermeister von San Sebastián und Abgeordneter der konservativen Volkspartei (PP) sprach er sich nicht nur gegen die Abspaltung der Region von Spanien aus, sondern verurteilte auch offen die Gewaltakte der ETA.

Für den damals noch jungen Borja Semper war die Hinrichtung von Ordóñez ein Schlüsselmoment: "Ich entschied mich damals, selber in die Politik zu gehen, um zu helfen, diesem Morden ein Ende zu setzen". Der Preis war hoch. Er war noch Student der Rechtswissenschaften, gerade einmal 19 Jahre alt, und konnte die Uni wegen seiner politischen Betätigung bei dem PP nur noch in Begleitung mit einem Bodyguard besuchen. Abends mit Kommilitonen und seinem Leibwächter auf ein Bier in die Altstadt zu gehen, war auch nicht leicht. Die Altstadt von San Sebastián war eine Hochburg der ETA. In Kneipen wurde Geld für die Terrorgruppe gesammelt. "Meine Freunde und Mitstudenten fühlten sich an der Seite einer Person, die Gefahr läuft, erschossen zu werden, logischerweise unwohl", erinnert sich Semper.

Heute vertritt der 39-jährige die konservative Volkspartei im baskischen Regionalparlament. Seitdem ETA die Waffen niedergelegte, "können wir unsere politische Meinung äußern, ohne Gefahr zu laufen, dafür ermordet zu werden". Zufrieden ist er dennoch nicht. "Die Gewalt hat zwar aufgehört und ich glaube nicht, dass die ETA wieder aktiv wird. Aber eine Aufarbeitung hat bisher kaum stattgefunden".

Soziologin Silvestre spricht sogar von einer Art Generalamnesie: "Nach so vielen Jahren des Schreckens, der Angst und der sozialen Spaltung in Separatisten und Nicht-Separatisten scheinen die Basken das dunkle Kapitel der ETA möglichst schnell vergessen zu wollen. Kaum jemand spricht noch darüber".

Dieses Verhalten sei zwar auf kurze Sicht verständlich, vielleicht sogar notwendig. Doch auf lange Sicht sei die fehlende Vergangenheitsbewältigung gefährlich, warnt die Soziologin. "Bevor die baskische Gesellschaft endlich ihren Frieden finden kann, muss die Vergangenheit aufgearbeitet werden, müssen die ehemals und teils immer noch verfeindeten Lager miteinander sprechen. Sonst verheilen die Wunden nur schlecht oder gar nicht." Die Regionalregierung ist sich dieser Situation durchaus bewusst. Die regierenden gemäßigten Nationalisten (PNV) ernannten in Absprache mit den anderen Parteien einen "Friedensbeauftragten". An öffentlichen Schulen lässt man Hinterbliebene von ETA-Opfern über ihre grausamen Erlebnisse berichten.

Über Erlebtes reden

Der Jesuitenpater Manu Arrue leitet in der baskischen Provinz Biskaya die Kircheninitiative "Frieden und Versöhnung" und begleitet die Hinterbliebenen von ETA-Opfern zu katholischen Schulen und Universitäten in der Provinz, wo sie von ihrem Schicksaal erzählen. "Für die Schüler ist es eine unvergessliche Erfahrung. Sie sind entsetzt darüber, was passierte. Für die meisten ist ETA Geschichte und in vielen Familien wird immer noch über das Thema geschwiegen", erklärt Arrue. Damit die gewaltbereiten Separatisten nie wieder Nährboden finden und sich die Geschichte nicht wiederhole, sei es wichtig, die Jugend aufzuklären, meint der Jesuitenpater.

"Doch auch die Aussprache und der Dialog zwischen Tätern und Opfer sind wichtig, wollen wir wieder als Gesellschaft zueinanderfinden. Dabei müssen aber alle Seiten zu Wort kommen - auch die Täter", stellt Arrue klar. In vielen Gemeinden organisiert die katholische Kirche heuer diskrete Treffen zwischen Familienangehörigen von ETA-Terroristen und Opferfamilien. Arrue erinnert daran, dass auch Täterfamilien leiden, Angehörige von der Polizei erschossen oder verhaftet wurden. "Es ist erstaunlich, wie viele Opfer- und Täterfamilien im gemeinsamen Schmerz miteinander sprechen konnten. Das ist der Anfang. Nur so können wir ein neues Kapitel aufschlagen."

Doch ein neues Kapitel kann nur aufgeschlagen werden, wenn auch die Politik mitspielt. Sogar der Jesuitenpater sähe es als eine symbolisch wichtige Geste, wenn die spanische Zentralregierung beispielsweise baskische ETA-Häftlinge, die ihre Strafen vor allem im weit entfernten Andalusien absitzen, in Haftanstalten im Baskenland verlegt würden. "So würde zumindest den Familien geholfen werden, für die es oft schwer möglich ist, ihre Angehörigen in Südspanien zu besuchen.

Doch die spanische Zentralregierung des konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (PP) lehnt selbst dies bisher ab, obwohl die ETA die Verlagerung der Häftlinge als Voraussetzung für die Auslieferung ihrer Waffenarsenale gemacht hat. Innenminister Jorge Fernández Díaz will von Erleichterungen im Strafvollzug für verurteilte Terroristen nichts wissen. Dabei wären dies Zeichen der Gesprächsbereitschaft, die viele im Baskenland von der spanischen Regierung erwarten, sagt Jonan Fernández, "Friedensbeauftragter der baskischen Regionalregierung.

Madrid lehnt Mediation ab

Madrid will nicht einmal eine internationale Vermittlergruppe akzeptieren, welche ETA zur Bedingung macht, um endgültig die Waffen zu übergeben. "Wir brauchen dafür keine Mediatoren. Unsere Polizei ist kompetent genug, um zu überprüfen, ob die Terroristen dabei ehrlich sind oder nur Theater machen", stellt Fernández Díaz immer wieder klar.

Die Etarras fürchten bei einer solchen Übergabe, verhaftet zu werden. So kommt der Friedensprozess im Baskenland nur schwerlich voran.