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Gute Geschäfte im "Mafia-Staat"

Von Alexander Dworzak

Politik

Während Ungarn Banken, Handel und öffentliche Dienste mit Steuern überzieht, hätschelt Orbán die Industrie.


Budapest/Wien. "Schroff, grob und aggressiv" sei der Ton aus Deutschland, kritisierte Ungarns Premier Viktor Orbán. Es ging dabei, wie könnte es anders sein, um die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung. Streichelweich ist Ungarns Premier dagegen, wenn es sich um die deutsche Wirtschaft handelt. Denn Deutschland ist mit Abstand wichtigster Handelspartner.

Rund 300.000 Personen arbeiten in Ungarn für deutsche Firmen oder deren Tochtergesellschaften; das ist jeder elfte Arbeitnehmer. Ungefähr 25 Prozent des ungarischen Exports wie Imports entfallen auf Deutschland. Und von den circa 77 Milliarden Euro an ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in Ungarn von 2001 bis 2015 kam mehr als ein Viertel aus Deutschland (22 Milliarden Euro). Österreich liegt mit 11 Milliarden Euro hinter Frankreich auf dem dritten Rang. Die FDI-Zahlen weisen überwiegend gesellschaftsrechtliche Transaktionen aus, nicht realwirtschaftliche Vorgänge. Noch aussagekräftiger sind daher die in Ungarn reinvestierten ausländischen Gewinne. Und hier verschiebt sich das Verhältnis weiter zu deutschen Gunsten: Von insgesamt knapp 26 Milliarden Euro 2001 bis 2015 entfallen ganze 45 Prozent auf Unternehmen aus Deutschland. Österreich folgt auf Platz zwei mit 17 Prozent.

Audi Hungaria betreibtgrößtes Motorenwerk der Welt

Seien es Allianz, Deutsche Telekom, Siemens, E.ON oder RWE: Deutsche Großunternehmen sind in Ungarn vertreten, aber auch zahlreiche Mittelständler. Besonderen Stellenwert genießt die Automobilindustrie. Die Volkswagen-Tochter Audi firmiert hier unter Audi Hungaria und produziert bereits seit 1994. Sie setzte im vergangenen Jahr 7,9 Milliarden Euro um. Rund 11.000 Mitarbeiter stellten alleine 2015 im westungarischen Györ 160.000 Fahrzeuge her. Dazu kamen zwei Millionen Motoren aus dem größten Motorenwerk der Welt. Daimler betreibt ein Werk in Kecskemét, südöstlich der Hauptstadt Budapest. Gut 4000 Mitarbeiter arbeiten dort, seit der Eröffnung 2012 rollten mehr als eine halbe Million Mercedes-Pkw vom Band.

"Relativ gute Arbeitskosten für Produktionsbetriebe bei relativ hoher Qualifikation", konstatiert Dirk Wölfer von der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer in Budapest. Zusätzlich sei Ungarns Infrastruktur im Vergleich zu anderen Ländern Ostmitteleuropas sehr gut ausgebaut - von Autobahnen über IT bis zur Energiesicherheit. Ebenso positiv seien die, etwa gegenüber Bulgarien, kurzen Wege zu den westeuropäischen Kernmärkten, sagt Wölfer der "Wiener Zeitung". "Wir sind von Anbeginn mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Ungarn sehr zufrieden", erklärt Monika Czechmeister, Pressesprecherin von Audi Hungaria.

"Für die deutsche Industrie ist Ungarn die Lebensader, um wettbewerbsfähig zu bleiben", analysiert der renommierte Wirtschaftsprofessor András Inotai von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Schließlich stellt Daimler für die Pkw-Sparte Mercedes-Benz Cars seinen Aktionären zehn Prozent Umsatzrendite in Aussicht; pro 100 erlösten Euro soll der operative Gewinn ambitionierte zehn Euro betragen. Mit Werken in Hochpreisländern alleine ist das nicht zu schaffen. Schon heute arbeiten in Kecskemét so viele Mitarbeiter wie in sonst keinem anderen Werk außerhalb Deutschlands. Inotai zufolge liegen die ungarischen Lohnkosten gegenüber den deutschen bei 1:5, die Produktionskosten - Energiepreise, Steuern und Produktivität miteinbezogen - stehen im Verhältnis 1:3 bis 1:2.

Niedrige Produktionskosten und Löhne, hohe Subventionen

Sowohl Daimler als auch Audi bauen daher ihre Kapazitäten in Ungarn weiter aus. Für ein weiteres Mercedes-Werk in Kecskemét seien "in den nächsten Jahren rund eine Milliarde Euro" an Investitionen veranschlagt, sagte Mercedes-Benz-Produktionsvorstand Markus Schäfer. Rund 2500 neue Stellen würden dadurch zusätzlich geschaffen, weitere bei Zulieferern in der Region.

Im harten Standortwettbewerb - etwa mit der Slowakei, wo 2015 mehr als eine Million Fahrzeuge produziert wurden - fördert Orbán die Autohersteller großzügig. 41 Millionen Euro an Subventionen hat die ungarische Regierung Mercedes für den Bau des zweiten Werkes angeboten. Die endgültige Summe will Daimler-Sprecherin Sofia Stauber der "Wiener Zeitung" nicht nennen.

Audi Hungaria errichtet derzeit auf 80.000 Quadratmetern ein zweites Karosseriewerk in Györ. Für dessen Aufbau gebe es keine staatliche Beihilfe, sagt Czechmeister. Über die Höhe der Investition schweigt sie sich allerdings ebenso aus wie über den Gesamtbetrag, den Ungarn seit der ersten Werkseröffnung 1994 zugeschossen hat. Eine frühere Werkserweiterung hatte die ungarische Regierung mit 133 Millionen Euro subventioniert. Dazu erteilte die EU-Kommission im Februar dieses Jahres ihre Zustimmung: Die positiven Aspekte des Projekts, etwa die Schaffung von 2100 Arbeitsplätzen, würden mögliche Verwerfungen im Wettbewerbsbereich eindeutig überlagern.

Mittels "strategischer Partnerschaftsabkommen" bindet Orbáns Regierung Unternehmen zusätzlich an den Standort Ungarn. 69 wurden seit 2012 geschlossen; Daimler und Audi Hungaria waren früh mit von der Partie. "Meist handelt es sich um Absichtserklärungen, etwa, dass die Firma in Forschung und Entwicklung in Ungarn investiert. Rechtlich haben diese Verträge keine Bedeutung", erklärt Dirk Wölfer. Dennoch bittet Daimler auf Anfrage um "Verständnis dafür, dass wir uns zu Verträgen mit der ungarischen Regierung nicht äußern". Audi Hungaria führt bereitwillig die Bereiche duale Ausbildung, Universitätskooperationen, Forschung und Entwicklung, Innovation sowie nachhaltige Arbeitsplatzsicherung an.

Dabei handle es sich bei Ungarn um einen "politischen und ökonomischen Mafia-Staat in den Händen von Orbán", fällt András Inotais vernichtendes Urteil im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" aus. "Für die jetzige Lage sind die EU-Strukturmittel für Ungarn nach maßgebenden Schätzungen zu mindestens 60 Prozent verantwortlich." Denn die mit europäischen Geldern co-finanzierten Aufträge landen zumeist bei Orbán-treuen Firmeneigentümern. Daimler sieht das anders: "Ungarn bietet grundsätzlich einen stabilen Wirtschafts- und Rechtsrahmen sowie ein verlässliches politisches Umfeld", sagt Sprecherin Sofia Stauber.

Gewinne geräuschlosaußer Landes geschafft

Die "Verlässlichkeit" beschränkt sich auf die gehätschelte verarbeitende Industrie. Andere Sektoren überzog die Fidesz-Regierung selektiv mit Sondersteuern. "Betroffen waren die Banken, der Einzelhandel und öffentliche Dienste wie Energie. Orbán rechnet diesen drei Bereichen strategische Bedeutung zu und will den Energiesektor praktisch voll, das Bankenwesen zumindest zur Hälfte in ‚nationalem Eigentum‘ sehen", sagt Ökonom Inotai. In allen Bereichen waren auch deutsche Unternehmen betroffen, wobei die Bayerische Landesbank und Energiefirmen ausgekauft wurden. Im Einzelhandel haben die deutschen Ketten ihre Position beibehalten.

"Praktisch seit 2010 und zunehmend ab 2011, als Orbáns Regierung die private Pensionskasse in Höhe von elf Milliarden Euro ‚bolschewisierte‘, das Verfassungsgericht entmachtete und die Bankensteuer einführte, sahen ausländische Unternehmen dem Treiben des Premiers besorgt zu", rekapituliert Inotai. "Die Ausländer sorgten sich aber nicht laut, sondern schafften ihre Gewinne geräuschlos aus Ungarn." Dementsprechend fielen die in Ungarn reinvestierten Gewinne in den Keller (siehe Grafik). Der Wirtschaftsprofesssor verweist auf den Faktor Zeit, warum Unternehmen dennoch weiter im Land operieren: "Niemand weiß, wie lange die Regierung an der Macht bleiben wird." Tatsächlich hat sich mit Nokia nur ein einziger namhafter internationaler Konzern seit der Fidesz-Alleinregierung unter Orbán 2010 aus Ungarn zurückgezogen - da war der finnische Elektronikkonzern schon angeschlagen, ehe er von Microsoft geschluckt wurde.

Daimler und Audi lassen sich vor den Karren der ungarischen Regierung spannen, wenn es um Partnerschaftsabkommen geht. Sie nehmen Subventionen aus Budapest dankend an. Bei der politischen Lage in Ungarn werden sie schmallippig: Daimler weist die Bitte zurück, die rechtsstaatliche Entwicklung seit der Standortentscheidung 2008 - damals unter dem sozialistischen Premier Ferenc Gyurcsány - zu beurteilen: Man kommentiere "grundsätzlich keine tagespolitischen Vorgänge ohne Bezug zu unseren Aktivitäten bzw. zur Automobilbranche und auch keine politischen Auseinandersetzungen". Weiters heißt es: "Der Daimler-Konzern nimmt als Unternehmen grundsätzlich eine neutrale Position ein." Audi Hungaria ersucht um "Verständnis, dass wir uns zu aktuellen politischen sowie gesellschaftlichen Fragen nicht äußern".

"Soziale Verantwortung" und Schweigen zu "Népszabadság"

"Audi Hungaria nimmt ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst", meinte hingegen Gerd Walker, Geschäftsführer Automobilproduktion der Audi Hungaria, im April 2015. Damals übergab das Unternehmen einen Audi an die lokale Polizei: "Es ist ein weiterer Schritt für mehr soziale Verantwortung", befand Weber.

Ob im Sinne des Meinungspluralismus auch für ungarische Medien Mittel bereitstünden, die kritisch über die Regierung berichten, wollte die "Wiener Zeitung" von Audi und Daimler wissen, das in Ungarn "gemeinnützige Organisationen und Vereine" unterstützt. Schließlich ist die Lage jener Medien prekär, wie auch der Fall "Népszabadság" zeigt. Die größte oppositionelle Zeitung, die Skandale in Orbáns Umfeld aufgedeckt hatte, wurde unter dubiosen Umständen im Oktober eingestellt. Audi und Daimler verweigern auch hier eine Antwort.

Mitarbeit: Kathrin Lauer