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"Ende der Demokratie"

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Nach den Verhaftungen führender kurdischer Politiker entfernt sich die Türkei immer weiter von der EU.


Ankara/Brüssel. Die Meldungen kamen kurz nach Mitternacht. Hochrangige Oppositionspolitiker seien festgenommen worden, alarmierten Rechtsvertreter der kurdisch dominierten Partei HDP. Und Freitagnachmittag bereits verhängte ein Gericht Untersuchungshaft gegen die Ko-Vorsitzenden der Fraktion, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Es war der vorläufige Höhepunkt einer Verhaftungswelle in der Türkei, die wenige Tage zuvor auch etliche Journalisten getroffen hatte.

Doch die Vorbereitungen dafür liefen schon seit Monaten. Im Mai bereits hat eine Mehrheit der Mandatare im türkischen Parlament für die Aufhebung der Immunität von mehr als hundert Abgeordneten gestimmt. Das war noch vor dem gescheiterten Putschversuch im Sommer, der später als Begründung für die Strafverfolgung tausender Militär- und Polizeiangehöriger sowie für Massenentlassungen im Justiz- und Bildungsapparat diente. Damals wurde in Brüssel noch über die Aufhebung der Visumpflicht für türkische Bürger bei Reisen in die EU diskutiert. Und kurz zuvor war das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft getreten, von dem sich die Europäer Unterstützung bei der Sicherung ihrer Außengrenzen und der Zurückweisung von Flüchtlingen erhofft hatten. Kritik am Vorgehen der Regierung in Ankara sowie des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan wurde durch das Interesse der EU am Gelingen des Deals gefiltert.

Repressalien nehmen zu

Doch dann kam der Putschversuch. Es folgten die Verhaftungen, Entlassungen, Anschuldigungen, Repressalien gegen Journalisten, Oppositionelle und Regierungskritiker bis hin zu lauten Überlegungen zur Wiedereinführung der Todesstrafe. Im Osten des Landes, wo Kurden die Mehrheit der Bevölkerung stellen, wurden Bürgermeister abgesetzt, die in regulären Wahlen bestimmt worden waren. Der jüngste Schlag war jener gegen die Spitze der HDP, die mit 59 Abgeordneten in der Großen Nationalversammlung in Ankara die drittgrößte Fraktion bildet. An die fünf Millionen Menschen hatten bei dem Urnengang im Vorjahr für sie gestimmt.

Angehalten wurden zunächst ein Dutzend Parlamentarier, gegen fünf Abgeordnete - darunter das Führungsduo - wurde Haftbefehl erlassen. Vorgeworfen wird ihnen, was etliche Kurden schon zuvor von ihren Anklägern zu hören bekommen haben: Unterstützung des Terrorismus.

Kurdischen Parteien wird immer wieder unterstellt, der politische Arm der verbotenen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zu sein, die auch von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird. Dennoch hat die konservative, islamisch geprägte Regierungsfraktion AKP unter Erdogan als Premier das Gespräch mit kurdischen Politikern gesucht und ein Ende der Ausgrenzung der Millionen Menschen zählenden kurdischen Minderheit angekündigt. Die EU konnte das Vorhaben der Beitrittskandidatin Türkei nur loben.

EU-Vertreter alarmiert

Das ist allerdings Jahre her. Mittlerweile ist Erdogan Staatspräsident geworden und wünscht sich Verfassungsänderungen, um seine Position zu festigen. Die Beitrittsverhandlungen zwischen Brüssel und Ankara stocken seit langem. Und die Kämpfe im Südosten des Landes zwischen der PKK und der türkischen Armee sind wieder aufgeflammt; fast täglich gibt es Todesopfer.

Kurz nach den nächtlichen Razzien bei HDP-Vertretern explodierte in der Nähe einer Polizeistation in der Millionenstadt Diyarbakir im Südosten eine Autobombe. Mindestens acht Menschen wurden getötet; die Zahl der Verletzten erreicht fast hundert. Laut Premier Binali Yildirim handle es sich um eine Tat kurdischer Extremisten.

Terrorakte und die Einstellungen kurdischer Politiker werden immer wieder in Zusammenhang gebracht - und gegen beide Seiten gehen die türkischen Behörden vor. Alles erfolge aber gemäß dem Recht und nach den Anforderungen der Gesetze, betonte Justizminister Bekir Bozdag.

Das sehen die kurdischen Politiker anders. Für HDP-Vizepräsident Hisyar Özsoy markieren die Verhaftungen der Parteispitze "das Ende der Demokratie in der Türkei". Und auch EU-Vertreter zeigten sich alarmiert. "Große Sorge" äußerten etwa die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für Erweiterungsverhandlungen zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn. Sie riefen die Türkei dazu auf, die parlamentarische Demokratie, die Menschenrechte und den Rechtsstaat zu achten.

Zwist um Beitrittsgespräche

Solche Appelle reichen aber nicht aus, finden Kurdenorganisationen. "Es ist Zeit, von der Besorgnis einen Schritt weiter zu gehen", sagt etwa Yasin Sunca, Europa-Koordinator für die HDP in Brüssel, der "Wiener Zeitung". Ein konkretes Signal wäre etwa ein Besuch von EU-Vertretern im Gefängnis oder die Teilnahme am Gerichtsverfahren gegen Demirtas. Es gehe dabei nämlich nicht nur um die HDP oder um die kurdische Minderheit - sondern um die Menschen in der Türkei, die auf die Unterstützung der Europäer zählen.

Daher sollte die Union eines nicht tun: den Verhandlungsprozess unterbrechen. "Die Türkei ist nicht Erdogan und nicht die AKP. Unter deren Politik leidet ein großer Teil der Bevölkerung", meint Sunca.

Eine Suspendierung der Beitrittsgespräche mit Ankara hatte zuletzt der österreichische Bundeskanzler Christian Kern lanciert. Doch in keinem anderen Mitgliedstaat erhielt er offen Akzeptanz dafür.

Auch in der EU-Kommission heißt es, dass die "Kommunikationskanäle" aufrechterhalten werden sollten. In der kommenden Woche will Hahn die jährlichen Berichte über die Fortschritte aller Beitrittskandidaten präsentieren. Die Brüsseler Behörde könnte eine Suspendierung der Verhandlungen mit der Türkei empfehlen. Das ist allerdings höchst unwahrscheinlich - solange sie nicht zumindest ein Drittel der Mitgliedsländer hinter diesem Vorhaben weiß.