London/Wien. (schmoe) Nach dem Brexit üben sich britische Firmen in Zurückhaltung. Einer Umfrage zufolge haben zahlreiche Unternehmen auf der Insel Investitionen verschoben oder ganz gestrichen. Insgesamt 33 Prozent der Firmen stehen derzeit auf der Bremse, so eine Erhebung des Meinungsforschungsunternehmens YouGov in Zusammenarbeit mit der Beratungsgesellschaft CEBR und der Finanzgesellschaft Hitachi Capital.
Als konkrete Gründe für die Verschiebung und Absage von Investitionen nannten die befragten Manager an erster Stelle den Absturz des britischen Pfund sowie die Erwartung einer steigenden Inflationsrate. Häufig angeführt wurden auch die Unsicherheit in Bezug auf den künftigen Zugang des Landes zum europäischen Binnenmarkt und das Risiko einer Konjunktureintrübung in Großbritannien.
Christian Kesberg, Wirtschaftsdelegierter in London, geht im Gespräch mit österreichischen Journalisten davon aus, dass es zwar weiterhin Wirtschaftswachstum in Großbritannien geben wird - die Wachstumskurve werde nach dem Brexit aber flacher ausfallen. Kesberg geht konkret von 0,5 bis 0,6 Prozent Wachstum aus, etwa 1,4 Prozent weniger als ohne Brexit. Als Grund sieht er vor allem die Unsicherheit nach der überraschenden "Leave"-Entscheidung. Die Folgen des Brexit seien aber kurzfristig noch nicht spürbar, denn: "Laster haben lange Bremswege", veranschaulicht Kesberg. Langfristig müsse man damit rechnen, dass die Inflation zwei Prozent erreichen und die Arbeitslosigkeit steigen werde.
Kesberg geht davon aus, dass es allein zwei Jahre brauchen werde, die "Ehe" zwischen der EU und Großbritannien zu "entflechten". Die tatsächliche Trennung sieht er nicht vor dem Jahr 2021. Im kommenden Jahr werde der britische Exportsektor vom niedrigen Pfund profitieren.
Generell könne man sagen, dass Großbritannien angesichts des Brexit "nicht vom Stuhl fällt", so Kesberg. Eine Folge sei aber, dass die Steuereinnahmen wegen des geringeren Wirtschaftswachstums sinken und das Staatsdefizit weiter ansteigen werden. Zudem habe man das Gefühl, dass sich der Großteil der britischen Politiker in einem "Paralleluniversum" bewege und von einem "Super-Deal" mit der EU träume. Nichts könnte illusorischer sein als das, sagt Kesberg. Die EU habe natürlich überhaupt kein Interesse, den Brexit zu einem Erfolg werden zu lassen.
Mordfall Cox vor Gericht
Bei einer Einschränkung der Personenfreizügigkeit durch die Briten sei klar, dass der freie Binnenmarkt-Zugang dahin sei, sagt Kesberg. Spekulieren könne man über einen Deal, bei dem die Zuwanderung gebremst und ein beschränktes Freihandelsabkommen möglich wäre. Dabei würden viele durchaus reflektierte britische Politiker wirtschaftliche Nachteile durch den Brexit durchaus in Kauf nehmen. Priorität habe die Frage der nationalen Souveränität.
Kesberg sieht jetzt zwar Nachteile für den Finanzplatz London, insgesamt sei man aber mit einem "Blechschaden" davongekommen. Manche Banken würden abwandern und mit Standort-Nachteilen sei zu rechnen, das ganze Vehikel bleibe aber fahrtüchtig, ist Kesberg überzeugt. Dass sich das britische Parlament, sollte es tatsächlich über den Brexit mitentscheiden dürfen, über den Volkswillen hinwegsetzen würde, hält Kesberg für ausgeschlossen. Der österreichische Handelsdelegierte bestätigt die Beobachtung, dass in Großbritannien nach dem Brexit ein aggressiver Chauvinismus Platz greife.
In der Tat ist es in Großbritannien im Zusammenhang mit dem Brexit zu einigen Gewalttaten gekommen. In London hat in diesem Zusammenhang der Prozess um den Mord an der britischen Labour-Abgeordneten und Brexit-Gegnerin Jo Cox begonnen. Angeklagt ist ein 53 Jahre alter, arbeitsloser Gärtner, der die 41 Jahre alte Parlamentarierin kurz vor dem EU-Referendum im Juni in ihrem nordenglischen Wahlbezirk in der Nähe von Leeds getötet haben soll. Der mutmaßliche Täter soll unter massiven psychischen Problemen leiden, die Staatsanwaltschaft geht aber von einem politischen Motiv aus.
Cox hatte sich für einen Verbleib des Landes in der EU und für die Rechte von Flüchtlingen eingesetzt. In Großbritannien herrschte zwischen Brexit-Anhängern und EU-Befürwortern eine aufgeheizte Stimmung - nach dem Tod der Frau wurde der Wahlkampf vorübergehend unterbrochen. Das Verbrechen löste auch eine Debatte aus, ob Politiker und Medien mit aggressiven Wahlkampfslogans eine Mitschuld an der Tragödie tragen.