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Wie umgehen mit der Salafisten-Szene?

Von Werner Reisinger

Politik
Koran-Verteilungen (wie hier auf der Wiener Mariahilfer Straße) wird es in Deutschland künftig nicht mehr geben.
© Stanislav Jenis

Deutschland verbietet salafistische "Lies!"-Stiftung, Experten stehen dem Verbot gespalten gegenüber.


Wien. Passanten auf der Wiener Mariahilferstraße sind sie längst bekannt: junge Männer, viele von ihnen mit ungestutzten Bärten und für strenggläubige muslimische Männer typischen Kopfbedeckungen. An ihren Ständen verteilen sie Gratisexemplare des Korans, mit Interessierten sprechen sie über ihren Glauben und die Ziele im Leben. Verteilt wird der Koran von Freiwilligen, hinter der Aktion steht die sogenannte "Lies!-Stiftung", auch bekannt als "Die Wahre Religion"-Bewegung.

In Deutschland ist seit Dienstag fürs Erste Schluss mit der Koran-Aktion. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière gab bekannt, die Stiftung verbieten zu lassen - sie würde gegen die Verfassung und gegen den Grundgedanken der Völkerverständigung verstoßen. Rund 140 Aktivisten der Aktion hätten seit ihrem Bestehen Deutschland in Richtung Irak und Syrien verlassen und sich dort dschihadistischen Gruppen angeschlossen. Die Website der Stiftung wurde gesperrt, in zehn deutschen Bundesländern wurden lange vorbereitete Razzien durchgeführt.

Für Außenstehende wirken die jungen Männer hinter ihren Ständen in den Fußgängerzonen harmlos. Nach den Aktionen in Deutschland und dem Verbot aber wird nun in Österreich erneut über die Ziele und den Charakter der salafistischen Bewegung diskutiert. Außenminister Sebastian Kurz denkt seit längerer Zeit über ein Verbot der Koran-Aktion in Österreich nach. Die wichtigsten Fragen im Überblick.

Wer steht hinter der "Lies!"-Stiftung?

Als Gründer der Bewegung gilt der in Köln lebende, salafistische Prediger Ibrahim Abou-Nagie. Seit 2011 lässt der aus Palästina stammende Islamist in großem Stil den Koran in tausendfacher Auflage drucken, verteilt wird in der Schweiz, in Schweden, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich. Als Finanziers werden Quellen in Saudi-Arabien vermutet.

Abou-Nagie ist Salafist, eine ultraorthodoxe Strömung im Islam, die sich auf die "Altvorderen" beruft und eine radikale, vormoderne, oft wörtliche Auslegung des Korans propagiert. Die salafistische Szene erfährt in Europa nach wie vor starken Zulauf, vor allem junge Männer mit sozialen oder persönlichen Problemen fühlen sich von den Angeboten der Salafisten angesprochen. In sich ist die Szene nicht homogen, sondern besteht aus moderaten, "missionierenden" Salafisten wie auch aus bereits radikalisierten Teilen. Sie kann als "Durchlauferhitzer" auf dem Weg zum militanten Islamismus betrachtet werden: Nicht jeder Salafist wird zum Dschihadisten, aber fast alle, die in die syrischen und irakischen Kriegsgebiete reisen, um sich den IS-Terroristen oder anderen Milizen anzuschließen, wurden in der salafistischen Szene sozialisiert und radikalisiert. Vor allem bei Konvertiten dauert der Prozess oft nur kurz, vielen jungen Konvertiten fehlt theologisches Grundwissen. Belegt ist eine enge Kooperation Abou-Nagies zur deutschen Konvertitenszene, vor allem zu den Predigern Pierre Vogel und Sven Lau.

Wer ist in der heimischen Salafistenszene aktiv?

In Österreich ist die "Wahre Religion"-Bewegung kein eigener Verein, sondern eine Art Zweigstelle der Deutschen Salafisten. Kundgebungen und Aktionen, wie die Koranverteilungen, werden von Einzelpersonen angemeldet.

Die Szene in Österreich und die Stiftung im Speziellen besteht aus jungen Männern unterschiedlicher Herkunft, viele der langgedienten Mitglieder stammen aus Tschetschenien. Auch zahlreiche Konvertiten zählen zu den Aktivisten.

Ist ein Verbot wie in Deutschland das richtige Mittel, um Radikalisierung zu bekämpfen? 

Darüber gehen die Meinungen der Islamismus-Experten auseinander. Der deutsche Psychologe Ahmad Mansour, selbst ehemaliger Islamist, begrüßt das Verbot als "notwendige und wichtige Maßnahme". Der Wiener Politologe Thomas Schmidinger hingegen steht einem möglichen Verbot in Österreich skeptisch gegenüber. Das deutsche Vorgehen könnte "mehr schaden als nützen", sagt der Islamexperte. Die Netzwerke der Salafisten würden bestehen bleiben, die Behörden müssten auch an diesen weiter dranbleiben. Einig sind sich Kenner der Szene darin, dass der Schlag gegen die Salafisten viel zu spät geführt wurde. Über Jahre konnten sich so nicht nur starke Netzwerke und Strukturen etablieren, die Szene wuchs auch beträchtlich. Zu lange habe man auf die "Lies!"-Stiftung auf ihre Koran-Aktionen reduziert, die ideologischen Ziele blieben dabei im Hintergrund, sagt Mansour. Ein rechtzeitiges Eingreifen der Behörden hätte Netzwerkbildung und Zustrom an Sympathisanten unterbunden.

Wie wird die Szene auf das Verbot reagieren? 

Bereits kurz nach Bekanntwerden des Verbots tauchten auf islamistischen Internetseiten Texte auf, in denen die Entscheidung des deutschen Innenministers als Angriff auf den Islam insgesamt dargestellt wurde. Deutschland, so der Tenor, wolle den Koran verbieten - für Experten der logische Versuch der Salafisten, sich in der Opferrolle zu präsentieren und die Muslime insgesamt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Man feile weiter am Mythos, wonach "der Westen" den Islam insgesamt ablehne und Muslime verfolgen wolle.

Man müsse in jedem Falle davon ausgehen, dass rasch Nachfolgeorganisationen gegründet werden, sagt Ahmad Mansour. Thomas Schmidinger rechnet durch das Verbot mit Auswirkungen auf die heimische Szene. Zudem befürchtet er, dass im Falle eines Verbots in Österreich größere Teile der Szene direkt an dschihadistische Netzwerke andocken könnten.

Kann Radikalisierung überhaupt nachhaltig bekämpft werden? 

Eine effektive Vorgangsweise gegen die Entwicklungen der Salafistenszene besteht laut dem Integrationsexperten Kenan Güngör aus einer Kombination von juristisch-polizeilichen und sozialarbeiterischen Strategien. Zwar sei es wichtig, den "Radikalisierungskanal" "Lies!"-Stiftung zu schließen, um die weitere junge Islamisten an der Ausreise nach Syrien oder den Irak zu hindern.

Das Sympathisanten-Umfeld aber müsse vor allem durch Interventions- und Präventionsarbeit betreut werden. Hier sei, sagt Güngör, eine enge Koordinierung zwischen Polizei und Justiz einerseits und Sozialarbeit andererseits nötig.