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"Die EU muss sich an ihre Werte halten"

Von Siobhan Geets aus Belgrad

Politik

Der serbische Oppositionelle Jovan Jovanovic über staatlich kontrollierte Medien und die Rolle der EU.


"Wiener Zeitung": Herr Jovanovic, Sie sind Abgeordneter der serbischen Oppositionspartei "Genug ist genug". Wie würden Sie Ihre Bewegung in drei Sätzen beschreiben?

Jovan Jovanovic: Sie ist eine Organisation der Mitte, die Leute anzieht, denen daran gelegen ist, Ordnung in diesen Staat zu bringen, wirksame Antikorruptionsmaßnahmen einzuführen. Wir wollen eine moderne Gesellschaft, die Teil der erweiterten europäischen Familie ist.

Ihre Partei beziehungsweise Bewegung "Genug ist genug" hat bei den heurigen Wahlen stark dazugewonnen - von zwei auf mehr als sechs Prozent. Dennoch ging die Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Premier Aleksandar Vucic als stärkste Kraft hervor. Die Menschen scheinen nicht "genug" zu haben.

Die SNS hat bei den vergangenen Wahlen die Mehrheit im Parlament verloren. Die Wahlbeteiligung lag zudem nur bei rund 55 Prozent. Es hat also etwa ein Viertel der Wahlberechtigten für die SNS gestimmt. Die Menschen sind unzufrieden und frustriert mit dem politischen Prozess. Wir sehen es als unsere Aufgabe, diese Menschen aufzuwecken und zurückzuholen in die politische Partizipation. Wir waren bei den Wahlen im April die viertstärkste Kraft und bilden die größte Oppositionspartei, denn die Serbische Radikale Partei (SRS) sehe ich nicht als echte Opposition, sie steht Premier Vucic sehr nahe.

Wie wollen Sie die Menschen überzeugen, sich von Vucic abzuwenden?

Bisher schreckten viele davor zurück, uns zu wählen, weil sie das für eine verschenkte Stimme hielten. Jetzt haben wir die Hürde zum Einzug ins Parlament genommen. In den Umfragen erhalten wir aktuell landesweit um die zehn, in Belgrad hoffen wir auf rund 20 Prozent. Wir werden wahrscheinlich kommendes Jahr vor Neuwahlen stehen, zudem haben wir 2017 Präsidentschaftswahlen.

Werden Sie einen eigenen Kandidaten für Letztere aufstellen?

Keinen eigenen, aber wir unterstützen gemeinsam mit anderen Parteien einen noch nicht bekannten Kandidaten. Dafür wird unser Parteichef Sasa Radulovic (früher Wirtschaftsminister in der SNS-Regierung) im Mai als Bürgermeister für Belgrad antreten.

Wie wollen Sie das erreichen?

Wir unterscheiden uns von den anderen Parteien. Wir bleiben unseren Prinzipien treu und zeigen den Menschen, dass es auch anders geht. Die Menschen sind sehr frustriert mit der politischen Elite. Die Erwartungen, die nach 2000 sehr hoch waren, wurden keineswegs erfüllt. Die Politiker, die heute an der Macht sind, unterscheiden sich nicht von jenen in den 1990ern. Sie sind immer noch korrupt. Das führt dazu, dass die Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren und gar nicht mehr wählen gehen.

Ihre Bewegung benützt auffällig oft soziale Medien.

Zu den anderen Medien hier im Land haben wir keinen Zugang. Ins staatliche Fernsehen werden wir gar nicht eingeladen.

Die traditionellen Medien stehen in Serbien fast komplett unter Kontrolle der Regierung - direkt oder indirekt.

Die Oppositionsparteien bekommen keine Zeit im Fernsehen, während der Premier täglich Monologe hält. Wir hatten seit Jahren keine politische Debatte im Fernsehen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die sozialen Medien auszuweichen, allerdings erreichen wir über diese viele Menschen nicht. Vor allem im ländlichen Raum haben viele keinen Internetzugang. Noch sind wir zudem eine Bewegung und keine Partei. Aber wir arbeiten daran und hoffen auf kommendes Jahr.

Sie wollen die Strukturen ändern - Stichwort Korruption und Medien, haben aber eine ähnliche Politik wie die regierende SNS...

Nein, wir verfolgen eine ganz andere Politik, etwa was die Wirtschaft betrifft. Wir treten gegen die Subventionierung von ausländischen Investoren auf. Stattdessen wollen wir das Geld nutzen, um die Steuern zu senken. Selbstverständlich sind ausländische Investoren willkommen, doch sie können nicht die Grundlage unserer Wirtschaft bilden.

Ihr Programm gibt sich, wie das von Vucic, proeuropäisch.

Ja, wir sind proeuropäisch, legen aber keinen Schwerpunkt auf die Formalitäten. Die EU agiert äußerst technokratisch. Ich kenne mich da aus, ich war lange für die Regierung als Berater in auswärtigen Angelegenheiten tätig. Das ist ein sehr langsamer Prozess, und in vielen Bereichen gibt es keinen echten Fortschritt.

Das liest man auch im aktuellen EU-Fortschrittsbericht für Serbien.

Wer ihn genau liest, erkennt, dass er recht kritisch ist. Es gibt in einigen Bereichen "etwas Fortschritt", bei den Medien dagegen gar keinen. Diese Formulierungen sagen einiges. Sie sind zwar bürokratisch, aber man liest einiges an Kritik daraus. Doch das sehen die normalen Menschen hier nicht. Die sehen Vertreter aus dem Ausland, wie sie serbischen Politikern auf die Schulter klopfen und die Regierung in den Himmel loben. Die Regierung nützt das natürlich aus. Diese Art von Hilfe brauchen wir hier wirklich nicht. Was wir brauchen, ist, dass die EU ihren Prinzipien und Werten treu bleibt. Das gilt vor allem für die eröffneten Kapitel 23 und 24 über Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit. Wir fordern, dass diese europäischen Werte eingehalten werden, und wollen Serbien nach dem Vorbild europäischer Staaten umbauen.

Ist die krisengebeutelte EU überhaupt noch attraktiv für Ihr Land?

Europa hat eine Reihe großer Krisen hinter sich - von der Finanzkrise bis zu den Flüchtlingen und Brexit. Keiner glaubt ernsthaft daran, dass es bald zu einer neuen Erweiterung kommen wird. Premier Vucic gibt sich zwar proeuropäisch, doch die staatlich kontrollieren Medien haben ständig Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf der Coverseite. Sie senden die Botschaft: Putin und Russland sind großartig. Vucic spricht immer von Balance, von guten Beziehungen zu beiden Seiten. Putin ist sehr beliebt beim Volk. Diese prorussische Haltung wird aber bis zu einem gewissen Grad konstruiert - vom Premier und von den Medien. Zum Beispiel hört man fast nie etwas über Militärmanöver zusammen mit der Nato. Sobald ein Manöver mit Russland stattfindet, schreiben und sprechen alle davon. Das führt natürlich zu einer völlig verschobenen Wahrnehmung. Die Seite, die wirklich auf die EU-Erweiterung setzt, will vor allem Stabilität und setzt weniger auf demokratische Werte. Bei der regionalen Stabilität, hat diese Regierung auch wirklich Fortschritte erzielt. Wir spielten eine konstruktive Rolle in der Flüchtlingskrise. Wir sehen das aber als etwas zu kurzsichtig vonseiten der EU. Auf lange Sicht führt das zu Instabilität. Es wird einen Rückschlag geben, nicht nur in Serbien, sondern am ganzen Westbalkan. Deswegen sollte die EU mehr Gewicht auf die Stärkung der Demokratie legen.

Soll die EU also strenger agieren?

Ja, sie soll sich an ihre Prinzipien halten. Es ist allerdings fraglich, wie das funktionieren soll. In Serbien haben wir ein System aus informellen Netzwerken, es herrscht der Klientelismus. Deswegen bemängeln wir auch sehr, dass der Savamala-Fall nicht im EU-Fortschrittsbericht auftaucht.

Das Belgrader Ausgehviertel Savamala soll abgerissen werden, um einem Bauprojekt zu weichen. Im April tauchten dort Maskierte auf, rissen Teile der Gebäude nieder und verprügelten Anwesende. Die Polizei reagierte nicht. Tausende gingen deshalb auf die Straße. Wieso taucht der Fall, der hier so hohe Wellen schlug, denn nicht im EU-Bericht auf?

Die offizielle Erklärung lautet, dass diese Berichte keine Einzelfälle berücksichtigen. Andere Einzelfälle finden sich aber sehr wohl wieder. Maskierte, die bis heute nicht identifiziert wurden, haben Gebäude niedergerissen und Menschen gefesselt und abgeführt. Und bis heute ist nichts passiert. Auffällig ist, dass kurz nach der Veröffentlichung des EU-Berichts ein neues Abkommen mit dem Kosovo abgeschlossen wurde - er bekommt eine eigene Vorwahl. Ob es da Absprachen gab? Ich kann es nicht sagen, ich kenne die Details nicht. Aber es sieht sehr danach aus.

Auch die Aufarbeitung der Vergangenheit ist Teil der EU-Forderungen. Man bekommt nicht den Eindruck, dass Serbien hier sehr weit gekommen ist. Man sieht sich, ähnlich wie das lange in Österreich der Fall war, gern als Opfer.

Darüber geredet haben wir viel. Aber ja, Srebrenica ist immer noch nicht als Völkermord akzeptiert. Der ehemalige Präsident Boris Tadic sendete hier viel klarere Signale. Das Problem ist, dass vor allem die jüngere Generation wieder viel nationalistischer ist. Als ich in dem Alter war, waren die meisten proeuropäisch eingestellt. Heute ist das anders. Rund 30 Prozent der jungen Wähler stimmten für die Serbische Radikale Partei. Es geht dabei aber nicht nur um Nationalismus. Es gibt auch hier so eine Art Trump-Effekt, es geht ihnen um Unterhaltung. Junge Menschen sagen, ja, der ist doch interessant und unterhaltsam, wenn er an der Macht ist, werden wir wenigstens unseren Spaß haben.

Jovan Jovanovic, Jahrgang 1970, ist Abgeordneter im serbischen Parlament für die 2014 gegründete Bewegung "Dosta Je Bilo" (Genug ist Genug). Zuvor war er unter anderem Botschafter in Indonesien und
außenpolitischer Berater früherer Regierungen. Jovanovic studierte Internationale Beziehungen u.a. in Harvard.