Zum Hauptinhalt springen

Signal mit begrenzter Wirkung

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Resolution des EU-Parlaments zur Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei macht auf Ankara keinen Eindruck.


Istanbul/Straßburg/Brüssel. Wertlos. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat sein Urteil über die Resolution des EU-Parlaments gefällt, als diese noch nicht einmal beschlossen war. Am heutigen Donnerstag stimmen die Abgeordneten bei ihrer Plenarsitzung in Straßburg über eine Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ab, und eine breite Mehrheit wird sich dafür aussprechen. In Istanbul, am Rande einer Wirtschaftskonferenz, erklärte Erdogan schon im Vorfeld des Votums: "Diese Abstimmung hat aus unserer Sicht keinen Wert."

Die Feststellung fügt sich in eine Reihe von Äußerungen und Entwicklungen, die zeigen, wie sehr sich die Türkei von der Europäischen Union entfernt. Denn trotz besorgter Aussagen und vorsichtiger Mahnungen von EU-Politikern setzen die konservative, im Islam verwurzelte Regierungspartei AKP und Präsident Erdogan ihren harten Kurs fort. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer folgt eine Welle von Verhaftungen und Entlassungen auf die andere; Beamte, Richter, Oppositionelle und Journalisten werden strafrechtlich verfolgt. Im Südosten des Landes sterben so gut wie jeden Tag Menschen bei Kämpfen zwischen der türkischen Armee und Rebellen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Spekulationen über die Wiedereinführung der Todesstrafe reißen nicht ab. Ein Gesetzesentwurf, der sexuellen Missbrauch von Kindern in bestimmten Fällen straffrei gestellt hätte, wurde erst nach heftigen Protesten zunächst zurückgestellt und dann gekippt.

"Vorübergehend einfrieren"

All das bewegte das EU-Parlament dazu, eine parteienübergreifende Resolution zu verfassen. Denn die Türkei ist Kandidatin für einen EU-Beitritt, und die Verhandlungen darüber haben den Zweck, das Land an gewisse Standards anzupassen; die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, politische und wirtschaftliche Stabilität zu stärken. Doch zeige die Regierung in Ankara nicht den Willen zur Kooperation, stellen die Europa-Mandatare fest. Daher rufen sie die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten dazu auf, die Beitrittsgespräche vorübergehend einzufrieren. Das heißt, dass keine neuen Verhandlungskapitel eröffnet und keine neuen Initiativen im Rahmen des Annäherungsprozesses gestartet werden sollen.

Gleichzeitig nennt die Volksvertretung die Bedingungen, unter denen die Gespräche wieder aufgenommen werden könnten: ein Ende der "unverhältnismäßigen Maßnahmen" nach der Einführung des Ausnahmezustandes sowie Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte. Dass es auch Voraussetzungen für die Abschaffung der Visumspflicht für Türken gibt, betont das Parlament ebenfalls. An der Reisefreiheit für die Bürger ihres Landes ist die Regierung in Ankara besonders interessiert, doch sie hat noch nicht alle Kriterien dafür erfüllt. Dazu gehört eine Aufweichung der Anti-Terror-Gesetze, die in der jetzigen Form sogar gegen Oppositionelle und Aktivisten eingesetzt werden können. Ankara hat aber nicht die Absicht, das zu ändern.

An Abkommen gebunden

Allerdings haben die Europäer selbst die Visaliberalisierung - neben einer Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen - an ein Abkommen mit der Türkei geknüpft, das den Schutz der EU-Außengrenzen verbessern und die Rückführung von Flüchtlingen erleichtern soll. Vor allem Deutschland war am Zustandekommen der Vereinbarung interessiert. Und auch jetzt plädiert Berlin dafür, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Im Bundestag erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass sie den Gesprächsfaden mit der türkischen Regierung nicht abreißen lassen werde.

Ähnlich hatte sich schon EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini bei einer Debatte im EU-Parlament geäußert. Eine Suspendierung der Gespräche würde die Chancen auf eine bessere Kooperation mindern, befand sie.

Die EU-Kommission hat bisher keine Aussetzung der Verhandlungen gefordert. Vor zwei Wochen hat zwar Erweiterungskommissar Johannes Hahn einen Bericht zur Türkei vorgelegt, in dem von klaren Rückschritten die Rede ist, doch ein Stopp der Gespräche ist noch nicht in Sicht. Die Behörde weiß nämlich, dass sie derzeit kaum ein Drittel der Mitgliedstaaten dazu bringen könnte, eine Suspendierung zu unterstützen. Die Resolution des EU-Parlaments wiederum ist nicht bindend.

Letzte Chance EU

Die Beitrittsverhandlungen gehen ohnedies nur mühsam voran, weil etliche Kapitel wegen des Zypern-Konflikts blockiert sind. Ankara erkennt - anders als der Rest der Welt - nur einen Teil der Mittelmeer-Insel an, die Türkische Republik Nordzypern.

Ob die Aussetzung des Dialogs den von den Europäern erhofften Druck auf Präsident Erdogan und die Regierung erzeugen würde, ist sowieso fraglich. Manche Experten sind skeptisch. "Eine Suspendierung würde Erdogan nicht beeindrucken, aber diejenigen treffen, die sich für Reformen und eine Annäherung an die EU einsetzen", sagt Demir Murat Seyrek von der in Brüssel ansässigen Europäischen Stiftung für Demokratie der "Wiener Zeitung". Die EU habe zwar schon viel, aber nicht alles an Strahlkraft und Einfluss eingebüßt.

Die Beziehungen zwischen ihr und der Türkei haben sich zuletzt verschlechtert, und die EU-Begeisterung der Türken ist wenige Jahre nach Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005 gesunken. Die Verantwortung dafür sieht Seyrek auch bei den Europäern mit ihrer Hinhalte-Taktik. Vor allem in Westeuropa machten Regierungen keinen Hehl aus ihrer Skepsis gegenüber einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Dennoch bleibt die EU-Annäherung für viele wichtig. "Jene demokratischen Kräfte in der Türkei, denen die Entwicklungen Sorgen bereiten, sehen die Union als letzte Chance für ihr Land an", stellt der Politologe fest. Ein Ende des Dialogs würde diese Hoffnungen rauben.