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Das Doppelspiel

Von Siobhán Geets aus Belgrad

Politik

Opfert die EU demokratische Werte in Serbien ihren geopolitischen Interessen? Ein Riesenskandal kommt im EU-Bericht nicht vor.


Belgrad. Auf dem Video der Überwachungskamera ist eine dunkle, menschenleere Gasse zu sehen. Es regnet. Plötzlich bewegt sich etwas: Im Hintergrund schiebt sich ein gelber Bulldozer ins Bild, bleibt kurz stehen und beginnt schließlich, eine Mauer niederzureißen. In der Wahlnacht vom 24. auf den 25. April, unbemerkt von der Öffentlichkeit, geschah in der serbischen Hauptstadt Belgrad etwas, das sich zu einem der größten Skandale seit Jahren in dem EU-Beitrittsland entwickeln sollte.

Gegen zwei Uhr Früh stürmten 30 schwarz gekleidete Maskierte in das Belgrader Ausgehviertel Savamala am Sava-Ufer. Ein Teil des Viertels - Lokale, Häuser und ein Firmengebäude - sollen einem umstrittenen, von den Vereinigten Arabischen Emiraten finanzierten Mega-Bauprojekt weichen: Auf der "Belgrade Waterfront" sollen Luxuswohnungen, Hotels, Büros, eine Oper und das größte Einkaufszentrum am Balkan entstehen. Ausgestattet mit Schlagstöcken und Bulldozern, demolierten die Maskierten Gebäude und fesselten Wachmänner und Passanten. Verzweifelten Anrufen durch Anrainer folgte die Polizei nicht. Ein Passant, der zufällig vor Ort war, erzählte der Newsplattform Birn, dass drei Männer mit Masken ihn aus seinem Auto zerrten, ihm das Handy abnahmen, ihn fesselten und für eineinhalb Stunden in eine Baracke am Parkplatz sperrten. "Sei still und halte den Kopf unten", sollen sie gesagt haben. Als sie ihn nach eineinhalb Stunden freiließen, war die Straße dem Erdboden gleichgemacht.

Vom Staat organisierte Verletzung der Bürgerrechte

"Das war eine organisierte Verletzung der Bürgerrechte, auf mehreren Ebenen koordiniert von staatlichen sowie nicht-staatlichen Akteuren, was besonders besorgniserregend ist", schrieb Ombudsmann Sasa Jankovic später in seinem Bericht. Sowohl die Polizei als auch Bürgermeister Sinisa Mali bestritten, von den Geschehnissen jener Nacht gewusst zu haben - eine glatte Lüge, wie sich herausstellte. Mittlerweile hat die Stadtregierung zugegeben, den Auftrag zur Demolierung der Häuser gegeben zu haben. Auch Premier Aleksandar Vucic schob die Schuld der Stadt zu, betonte aber immer wieder, dass es sich bei den Häusern um illegale Gebäude gehandelt habe. Die Antwort seiner Kritiker: Dies treffe wohl nicht auf alle Häuser zu. Und selbst wenn welche illegal errichtet waren, muss bei deren Abriss geltendes Recht eingehalten werden.

"Savamala ist symbolisch dafür, was in Serbien passiert", sagt ein Journalist, der hier nicht namentlich genannt will. "Das hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Die Leute haben genug."

Der Frust der Menschen entlud sich in den größten Massenprotesten seit Jahren. Angetrieben von der Zivilbewegung "Ne da(vi)mo Beograd" (Wortspiel: Geben wir Belgrad nicht her/Erwürgen wir Belgrad nicht) gingen am Höhepunkt der Demonstrationen rund 25.000 Menschen auf die Straße. Sie forderten den Rücktritt der Verantwortlichen in der Stadtregierung. Bereits im Juni hatte Premier Vucic rechtliche Konsequenzen angekündigt - ohne Folge. Auch die Ermittlungen brachten bisher keine Klarheit, Ergebnisse lassen seit mehr als einem halben Jahr auf sich warten. Kritiker behaupten, dass die Politik so schnell wie möglich Platz für das Bauprojekt machen wollte - und deshalb ihre Schläger schickte.

Auch in den Medien wurde der Vorfall weitgehend ignoriert. In den größten Zeitungen und TV-Sendern kamen weder die Proteste vor, noch wurde vom Waterfront-Vorfall selbst berichtet. Bereits kurz nach den vergangenen Neuwahlen, die Vucic’ Serbische Fortschrittspartei wieder gewann (wobei sie die absolute Mehrheit verlor), brachte die Partei das staatliche Fernsehen unter ihre Kontrolle - und besetzte alle wichtigen Positionen zu ihren Gunsten. Der staatliche Sender strahlt eine skurrile Mischung aus Reality-TV, Gewaltverherrlichung und Hetze aus. Kritische Talkshows wurden abgeschafft, die Opposition kommt nicht zu Wort. Auch der Privatsender "Pink" ist ein wichtiges Sprachrohr für Vucic geworden.

"Boulevardisierung" der Medienlandschaft

Auch die meisten auflagenstarken Zeitungen sind regierungsfreundlich. Zwar gibt es in dem rund 7,2 Millionen Einwohner zählenden Balkanstaat mehr als 1000 Medien. Doch Vucic hat die Presselandschaft "boulevardisiert". Die Tageszeitung "Informer", geleitet von einem guten Freund des Premiers, kampagnisiert gegen Oppositionelle und kritische Journalisten, hetzt gegen Minderheiten wie Roma und Schwule und bringt täglich Jubelmeldungen über den russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Das ist eine Propagandamaschine um zehn Cent pro Ausgabe", sagt der Journalist, der anonym bleiben will. So erreicht Vucic’ Apparat auch die Menschen am Land, die häufig keinen Internetzugang haben.

Vucic selbst redet auf einer Konferenz in Belgrad der Medienfreiheit das Wort - und spricht von einer Kommission zur Wahrheitsfindung bei Morden an Journalisten: "Wir tun alles Mögliche. Der politische Wille ist also da. Verbrechen und Drohungen gegen Journalisten werden nicht ungesühnt bleiben." Als Premier sei er stets offen für Medien und für die Öffentlichkeit: "Ich bin gegen Einmischung der Politik, jeder Versuch kommt nicht von mir oder von meiner Regierung."

Kritische Journalisten sehen das freilich anders. Laut einem langjährigen, in Serbien bekannten Reporter nennt Vucic die Journalisten beim Namen, die er als Feinde ausgemacht hat. Regierungsnahe Zeitungen starten daraufhin Medienkampagnen gegen sie, Drohungen folgen über soziale Medien: "Ich selbst habe rund 40 Morddrohungen erhalten. Die Polizei tut nichts dagegen."

Das Doppelspiel Aleksandar Vucic’ verärgert mitunter auch Brüssel. Auch hier geht der serbische Premier äußerst clever vor: Nach außen stets pro-europäisch, weltoffen und kompromissbereit, will er gleichzeitig gute Kontakte zu Russland. Während er mit Brüssel verhandelt, hetzen die von ihm ernannten Minister häufig gegen die EU, regierungsnahe Zeitungen schreiben gegen Brüssel an und setzen Putin auf Seite eins.

EU legitimiere antidemokratische Prozesse

Vucic, früher ultranationalistischer Kriegshetzer, heute gemäßigter Nationalist, gleichzeitig überzeugter Proeuropäer und guter Freund Putins, Europas Kooperationspartner im Kosovo-Konflikt - in Brüssel sieht man in ihm einen der wichtigsten Verbündeten am Westbalkan. Savamala, der Skandal des Jahres, Symbol für Korruption und Missachtung der Bürgerrechte, kommt im EU-Fortschrittsbericht zu dem Beitrittskandidaten nicht vor. Das liege daran, dass hier nie auf Einzelfälle eingegangen würde, heißt es aus Brüssel. Doch im Kapitel zu Medienfreiheit werden durchaus konkrete Beispiele, also Einzelfälle, genannt.

Kritiker haben einen anderen Verdacht: Im Sinne guter Beziehungen und Stabilität in der Region gehe die EU zu lax mit der serbischen Regierung um - und legitimiere damit antidemokratische Prozesse. Die EU-Kommission habe Savamala im Gegenzug für einen Deal mit Vucic ausgeklammert. Wie genau diese Abmachung ausgesehen haben soll, darüber gibt es unterschiedliche Theorien. So findet es der oppositionelle Abgeordnete Jovan Jovanovic ("Genug ist Genug") "auffällig, dass kurz nach der Veröffentlichung des EU-Berichts ein neues Abkommen mit dem Kosovo abgeschlossen wurde - er bekam eine eigene Vorwahl".

"Mit etwas Druck kann man die Politiker hier zu allem bringen, auch zu einem Vertrag mit dem Kosovo oder mit Bosnien", sagt auch der bekannte Reporter. Es stellt sich die Frage, ob die mit Serbien ausgehandelten Kompromisse langfristig zu mehr demokratischem Rückhalt führen - oder ob die EU demokratische und rechtsstaatliche Werte der Stabilität am Westbalkan opfert.