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"Hier verrecken Kinder"

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Österreichische Hilfsorganisation versorgt Arbeitslose und Menschen in bitterster Armut mit dem Nötigsten.


Athen. Der graue Ford Transit, übersät mit Aufklebern, Salzburger Kennzeichen, ist schräg auf dem Bürgersteig geparkt. Im totalen Halteverbot. Der Fahrer hat ein paar Meter weiter in einem Café zum ersten Gespräch geladen. Sein Blick schweift über den Athener Verfassungsplatz, mitten in der zu dieser Tageszeit maximal pulsierenden, lärmerfüllten Vier-Millionen-Metropole. Dennoch bleibt er ganz gelassen. Denn er weiß: Einen Strafzettel wird er nicht kassieren. Erwin Schrümpf, 53, aus Seekirchen am Wallersee, braungebranntes Gesicht, schlank, abgetragene Jeans, der Krawatten genauso zu meiden scheint wie der Teufel das Weihwasser, zieht an seiner Zigarette. "Man kennt mich", sagt er lapidar. "...wenn die Krise Kinderopfer fordert", steht demonstrativ auf der Heckklappe seines Ford. Damals, das sei "schon ein bisserl her", habe er eine Fernsehreportage der ARD über Griechenland gesehen, erinnert sich Schrümpf.

In dem Film wurde eine schwangere Frau gezeigt, deren Baby im Bauch starb, weil es in der Elpis-Klinik, einem großen Spital in Athen, an allen erdenklichen Dingen fehlte. "Ich dachte mir: ‚Wie bitte? Das kann nicht sein! Im Europa des 21. Jahrhunderts darf so etwas doch nicht passieren!‘" Schrümpf rief kurzerhand das Spital in Athen an und fragte den Chefarzt, was er denn so alles brauche. Schrümpf klapperte Pharma-Unternehmen ab, er bat um Sachspenden. Bald fuhr er mit der ersten Hilfslieferung nach Griechenland. Das war Anfang 2012. Prompt gab er sein gut gehendes Geschäft mit EDV-Zubehör in der Heimat auf und gründete einen Verein für humanitäre Hilfe in Griechenland: die Griechenlandhilfe. Heute ist der Verein auf mehr als 40 Mitarbeiter - auch in der Schweiz und Deutschland - angewachsen.

Griechen können sich keine Medikamente mehr leisten

Ob Infusionsnadeln, Verbandsmaterial, Medikamente oder Babynahrung: Während die Griechenlandhelfer im Jahr 2013 noch etwa 17 Tonnen medizinisches Material nach Hellas transportierten, waren es im Jahr 2015 bereits einhundert Tonnen Hilfsgüter. Eine Herkulesleistung. Sogar Krankenwagen wurden schon für den chronisch klammen Rettungsdienst in Athen gespendet.

90.000 Kilometer fuhren dafür Schrümpf und Co. quer durch halb Europa, 55.000 Kilometer legten sie auf See zurück. Sie haben eine Homepage im Internet, betreiben eine Facebook-Seite, versenden regelmäßig Newsletter und haben 5000 Flyer verteilt.

Im vorigen Jahr verrichteten die Griechenlandhelfer so 8547 ehrenamtlich geleistete Arbeitsstunden. Die Tendenz heuer: steigend. Das hat einen guten Grund: Die Not in Griechenland bleibt, gelinde gesagt, groß. Schrümpf ist sich sogar sicher: "Die Lage wird immer schlimmer." Unterdessen betreut die Griechenlandhilfe dutzende Projekte in Athen, in Patras, auf Lesbos oder anderswo: Sie beliefert vor allem Waisenhäuser, Behindertenheime, Sozialkliniken und Krankenhäuser.

Zum Beispiel in Daphni, in einem dichtbesiedelten Athener Vorort. Hier ist die desaströse Griechenlandkrise überall zu sehen. Menschen suchen am helllichten Tage im Müll nach Essbarem, an den Schaufenstern unzähliger Geschäfte prangen gelbe Aufkleber mit der knallroten Aufschrift "Poleitai" ("Zu verkaufen") oder "Enoikiazetai" ("Zu vermieten"). Ausverkauf auf Griechisch.

In einer ruhigeren Seitenstraße befindet sich Daphnis kommunale Sozialambulanz. Hilfsbedürftige erhalten hier Medikamente, aber auch Windeln oder Pflaster.

Elena und Penelope arbeiten schon seit Jahren hier. Für die jungen Griechinnen ist Erwin Schrümpf einfach nur "ein guter Mensch". Elena macht eines der vielen Pakete auf, das Schrümpf mitgebracht hat. Wieder einmal. "Er weiß genau, was wir brauchen", sagt sie lächelnd.

Auch Versicherte erhalten "keine angemessene Leistung"

Wer glaubt, die stetig wachsende Zahl der Niedrigrentner seien die Problemfälle Nummer eins in puncto Gesundheitsversorgung in Griechenland, der irrt gewaltig. Sagenhafte neunzig Prozent der Arbeitslosen in Griechenland müssen laut offiziellen Angaben auf jegliche staatliche Unterstützung verzichten. Die unweigerliche Folge: Zu Weihnachten und Neujahr muss das Gros der Griechen ohne Job auch ohne Geld in der Tasche auskommen. Hintergrund: Das Arbeitslosengeld wird in Griechenland höchstens ein Jahr lang gezahlt - und dies sind auch nur 360 Euro im Monat. Danach gibt es für ein weiteres Jahr eine monatliche Unterstützung in Höhe von 200 Euro. Wer länger ohne Arbeit bleibt, geht völlig leer aus. Gegenwärtig gibt es in Griechenland mehr als 350.000 Familien, in denen kein Mitglied mehr eine Arbeit hat. Die Arbeitslosenquote betrug per Ende September gut 23 Prozent. Dies ist der höchste Wert in der EU.

Mehr als 1,2 Millionen Griechen und Griechinnen sind erwerbslos. Davon sind rund 800.000 mehr als ein Jahr lang ohne Arbeit. Besonders die jungen Griechen sind von der Massenarbeitslosigkeit betroffen. In der Altersgruppe bis 24 Jahre sind knapp 47 Prozent ohne Job.

Aber auch wer einen Job hat, der muss sich zumeist mit einem sehr niedrigen Lohn begnügen. Der Mindestlohn für einen Vollzeitjob wurde in den Krisenjahren um 22 Prozent auf nunmehr 586 Euro brutto gesenkt. Für Arbeitnehmer bis 25 Jahren fiel der Mindestlohn zu Füßen der Akropolis gar um 32 Prozent auf 511 Euro. Rund 125.000 Arbeitnehmer in Griechenland erhalten als geringfügig Beschäftigte weniger als 100 Euro im Monat. Dies ist auch am Peloponnes eher ein Trinkgeld als ein richtiges Gehalt.

(Extremes) Lohndumping auf Griechisch

Kein Wunder, dass mehr als ein Drittel der Griechen in bitterer Armut lebt. Kaum oder kein Geld - dies alleine ist schon prekär. Doch damit nicht genug: Bis zu drei der insgesamt elf Millionen Griechen sind unversichert. Für Schrümpf war dies zu Beginn der Krise das wohl wichtigste Problem. Zwar gewährte die seit Anfang 2015 amtierende Regierung unter dem linken Premier Alexis Tsipras allen Unversicherten in Griechenland Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Endlich. Aber: Alle, auch wer krankenversichert sei, würden "keine angemessene Leistung" erhalten, wettert Schrümpf. Die Politiker in Athen betrieben nur "Augenauswischerei", poltert er. Ärzte würden weinen, wenn sie ihm berichten, dass ihre Patienten sterben, weil die Zustände im griechischen Gesundheitssystem so katastrophal seien.

Die Diagnose ist verheerend: Griechenland gleiche in Sachen Gesundheitsversorgung immer mehr einem Dritte-Welt-Land.

Fakt ist: Selbst Schwerkranke wie Krebspatienten, ob ganz normal versichert oder auch nicht, haben in Griechenland wochen- oder gar monatelang auf einen Behandlungstermin zu warten. Das kann tödlich sein.

In Griechenlands Spitälern herrscht nicht nur eine grassierende Personalnot. Immer wieder ist ein akuter Mangel an Medikamenten, auch an Krebsmitteln, die in der Regel sehr teuer sind, zu beklagen. Defizitabbau hin, Haushaltssanierung her: Dies ist die hässliche Seite des rigorosen Sparkurses in Athen.

Blieben die Privatkliniken, oftmals wohl die einzige Alternative, um sich einer rundum ausreichenden Versorgung zu erfreuen. Nur: Das können sich ohnehin immer weniger Griechen leisten. So lautet das Credo in Athen: "Kein Geld, keine Versorgung." Im Extremfall, was im krisengebeutelten Hellas eben nicht so selten ist, kann dies aber auch in letzter Konsequenz heißen: "Wer kein Geld hat, der stirbt." Einfach so.

Griechenland steuert auf einen Kollaps zu

Erwin Schrümpf fährt mit seinem Ford Transit weiter zum Hafen von Piräus. Er gibt Gas. Dort wird gleich warmes Essen verteilt. Frisch vor Ort gekocht, wie er betont. Auch in Piräus leben viele arme Menschen. Sie sind vielleicht nicht krank, sie haben aber Hunger.

Schrümpfs Transporter biegt in den Hafen ein. Das Essen ist schon fertig. Und es schmeckt! Heute gibt es Rindfleisch mit Nudeln, 65 Portionen. Alle werden verzehrt. Erwin Schrümpf kauft noch mehrere Dutzend Flaschen Wasser vom Kiosk. 50 Cent die Flasche. Für die Hilfsbedürftigen im Hafen von Piräus ist das zu viel. Einer von ihnen ist Kostas, Mitte sechzig, obdachlos. "Ich habe ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet und bin dann nach Griechenland zurückgekehrt. Heute habe ich keine Wohnung, dafür umso mehr Schulden. Zum Glück muss ich dank Erwin nicht hungern."

"Ich bin total enttäuscht von Europa. Wie kann es sein, dass Europäer andere Europäer sterben lassen? Hier hungern Menschen. Hier verrecken Kinder. Nur weil der Staat ihnen nicht helfen kann. Das geht gar nicht", sagt Erwin Schrümpf. Dabei hängt Griechenland, das sich im Frühjahr 2010 an den Rand des Staatsbankrotts manövrierte, weiter am Tropf seiner öffentlichen Geldgeber EU, EZB, IWF und neuerdings Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM).

Seither hat Hellas mehr als 225 Milliarden Euro erhalten. Aktuell läuft das dritte Rettungsprogramm für Griechenland. Sein Volumen: 86 Milliarden Euro. Dennoch: Griechenland, das ewige Euro-Sorgenland, kommt immer noch nicht vom Fleck. "Die Mittelschicht bricht weg. Griechenland steuert schnurstracks auf einen Kollaps zu", legt Schrümpf den Finger in die Wunde. Er schaut aufs Meer. Die Sonne geht gerade unter. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch der Schein trügt. Für den Seekirchener neigt sich ein langer Tag dem Ende zu. "Ich helf’ den Leuten, die die Suppe dafür auszulöffeln haben, die ihnen die anderen eingebrockt haben. Das ist alles, was ich tun kann."