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"Angst ist ansteckend - genauso wie Mut"

Von Anja Stegmaier

Politik

Die stärker werdende Unterdrückung bedroht auch die Meinungsfreiheit im Internet, Verfassungsreform soll Erdogan noch mehr Macht verleihen.


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In Istanbul wurde im Juni gegen die Verhaftung namhafter Aktivisten und für Pressefreiheit demonstriert.
© reu/Osman Orsal

Wien/Ankara. Wütende Proteste der Opposition konnten Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Nacht zum Dienstag nicht davon abhalten, die ersten zwei Artikel seiner weitreichenden Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Verfassungskommission durchzubringen. Unter anderem handelt es sich hierbei um die Aufstockung der Abgeordneten von 550 auf 600. Nun muss nur noch das Parlament abstimmen. Die AKP und die ultranationalistische Oppositionspartei MHP hätten dafür gemeinsam eine ausreichende Mehrheit.<p>Die übrigen Oppositionsparteien laufen Sturm gegen die Reform. Sie befürchten eine Diktatur. Die Regierung rechnet im Frühjahr mit einem Referendum.<p>Unter den Entwicklungen in der Türkei leidet auch der Journalismus. "Wir schleichen wie Schnecken und versuchen irgendwie voranzukommen." Hayko Bagdat erfährt die schwierige Situation in der Türkei tagtäglich am eigenen Leib: "Unsere Bewegungsfreiheit ist enorm eingeschränkt. Es gibt kaum Möglichkeiten, Journalismus in irgendeiner Form ausüben zu können", sagt der aus zahlreichen Talkshows in der Türkei bekannte Medienmann der "Wiener Zeitung".

<p>Einem kürzlich veröffentlichten Bericht der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zufolge sind seit dem Putschversuch im Juli 140 Medien in der Türkei eingestellt und 29 Verlagshäuser geschlossen worden. Mehr als 2500 Medienschaffende sind ohne Arbeit. Aber nicht nur Journalisten leiden unter der Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit. So wurde vergangenen Sonntag der Kantinenchef der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" wegen "Beleidigung des Staatschefs" festgenommen, weil er gesagt haben soll, er würde Erdogan keinen Tee servieren, falls dieser in die Redaktion käme. Das türkische Anti-Terrorgesetz verhalf den Behörden vergangene Woche dazu, mehr als 1600 Menschen vorzuladen, die unter Verdacht stehen, Kontakte zu einer Extremistenorganisation zu unterhalten. Rund 500 von ihnen sitzen bereits in Untersuchungshaft, teilte das türkische Innenministerium am Montag mit. Die Verdächtigen sollen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung, der PKK und des IS sein.<p>

Auch gegen den Journalisten Bagdat laufen aktuell zwei Verfahren wegen Beleidigung. Die Abschreckungspolitik der AKP-Regierung beinhaltet aber auch öffentliche Diffamierung. Vom türkischen Sicherheitsdienst werden Listen in Umlauf gebracht und veröffentlicht. Aufgeführt sind die Namen von Journalisten und Medien, die gemieden werden sollen. Vor allem jene, die die Kurdenfrage ansprechen, werden aus den Medien verbannt, sagt Bagdat. "Man versucht dadurch, die Leute mundtot zu machen. Ich selbst stehe auch auf einer dieser Listen." Der Journalist, dem mit fast 700.000 Followern auf Twitter mehr als doppelt so viele Nutzer folgen als Armin Wolf, kann zunehmend seine Arbeit nicht mehr ausüben. Selbst internationale Medien in der Türkei trauen sich nicht, ihn in ihre Sendungen einzuladen. "Es ist wie bei einem Computerspiel, wo man zu Beginn verschiedene Schwierigkeitsgrade wählen kann. Ich habe die höchste Schwierigkeitsstufe, denn ich lebe in der Türkei, bin armenisch- und griechischstämmig, Sozialist und Atheist. Ich finde die Rechte der Kurden sehr bedeutend - fehlt nur noch, dass ich homosexuell bin. Dann hätte ich alle Diskriminierungseigenschaften, die man in der Türkei haben kann", sagt Bagdat und kann darüber selbst noch lachen.<p>Zu den genannten Repressionen kommen die Beschlagnahmung von Vermögen, Passentzug und die ständige Gefahr von Attentaten hinzu. "Das Problem sind nicht nur die Inhaftierungen, sondern es gibt auch eine gesellschaftliche Spaltung. Die Gewalt wird vermehrt auf den Straßen ausgetragen - seit vier Jahren stehe ich unter Personenschutz, trotzdem habe ich mich nie in Sicherheit gefühlt." Auf Hilfe und Gerechtigkeit mittels des Rechtsweges zu hoffen sei im türkischen Rechtssystem allerdings aussichtslos. Die Medienkrise sei im Kern eine Krise des Rechtsstaates, sagt Bagdat. So finden Rechtsuchende immer seltener einen Anwalt, der sie bei einer Klage vor Gericht vertreten will.<p>

Zensur auch inSozialen Medien

<p>Wurden unter Erdogan bereits vor dem Putschversuch im Juli linke Medien zugesperrt, müssen nach dieser Zäsur auch kleine Zeitungen, mit einer Auflage von gerade einmal 10.000 Stück, zwangsweise schließen. Onlinemedien haben in der Türkei daher eine immer wichtigere Stellung. Viele Journalisten versuchen, nach Jobverlust und trotz Diffamierung, über Onlinemedien und Soziale Netzwerke ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Und die alternative Berichterstattung im Netz ist stark nachgefragt. Bagdat publiziert über eine private Website, seine Artikel werden mitunter mehr als 200.000 Mal gelesen. Twitter sei für ihn aktuell das wichtigste Sprachrohr. "Der größte Niederschlag wäre für mich, wenn sie meinen Account sperren würden. Ich kann sehr viel bewegen." Die Nutzung von Social Media verstärkt sich durch die staatliche Medienzensur - das nutzen auch die Sprachrohre der Regierung, also die Massenmedien, verstärkt für ihre Zwecke. Auch Fake-News nehmen rasant zu.<p>Den "Kampf gegen Terrorismus" führt die Regierung auch in den sozialen Medien. 2014 hatte Erdogan Twitter im Land vorübergehend sperren lassen. Es gibt zahlreiche Versuche, Twitteraccounts von bestimmten Personen zu zensieren, auch Blogs und Webseiten werden regelmäßig gesperrt. Gegen 10.000 Nutzer sozialer Netzwerke ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Regierungsbeleidigung und des Verdachts der Unterstützung des Terrorismus. Fast 2000 Nutzer sind deshalb im vergangenen halben Jahr festgenommen worden, teilte das türkische Innenministerium am Samstag mit. "Der ganze Staatsapparat ist absurd. Erdogan hat alles so designt, dass es keine Möglichkeit gibt, ihn auf irgendeine Art zu schwächen." Der Journalist ist aber trotzdem optimistisch. "Es ist 2016. Sie können uns nicht stoppen. Wird eine Seite gesperrt, machen wir über eine andere Domain weiter."<p>

Unabhängiges türkisches Medium aus Wien

<p>Der türkische Journalist Dogan Ertugrul lebt seit August 2016 in Österreich. Nach 16 Jahren Journalismus in der Türkei bekam er politisches Asyl. Er glaubt, dass sich die Situation in der Türkei noch verschlimmern wird. Gemeinsam mit dem Studenten Bilal Baltaci und weiteren Medienschaffenden hat er den Verein "Free Journalists" gegründet. Anfang Dezember startete die Nachrichtenseite kronos.news in Wien. Das Ziel: ein freies Medium. Vorerst nur in türkischer Sprache, sollen die Onlineartikel ab Jänner auch in Deutsch und Englisch erscheinen - mit Fokus auf Europa. Die Nachrichtenseite will arbeitslosen und von der türkischen Regierung verfolgten Journalisten eine Plattform bieten, weiter journalistisch tätig zu sein und den Nutzern unabhängige Berichterstattung abseits der türkischen Mainstreammedien bieten.<p>Kronos sei aber kein türkisches Medium, betont Ertugrul. "Die Reflexe, die türkische Medien haben, gibt es bei Kronos nicht", sagt der langjährige Journalist. Die Spaltung der türkischen Gesellschaft finde sich auch in der Medienlandschaft wieder, auch in Europa: Pro-Erdogan, Anti-Erdogan. Die aggressive, ideologiegetriebene Berichterstattung sei für Ertugrul letztlich Grund gewesen, seinen Posten bei der Tageszeitung "Star", die den Kurs des konservativ-islamischen Präsidenten unterstützt, zu quittieren. Kronos wolle keine Propaganda, weder für noch gegen Erdogan betreiben, sondern objektiv und nicht aggressiv berichten, so Ertugrul. "Alle Despotenregime, wie auch das Erdogans ernähren sich von Aggressivität. Das ist gefährlich, da wollen wir nicht mitmachen."<p>Sein Kollege Baltaci betont zudem die Wichtigkeit einer alternativen Türkeiberichterstattung auch in türkischer Sprache in Europa. "Uns ist es wichtig, die Minderheiten in Europa anzusprechen und ihnen zu vermitteln, dass sie zu Europa, zu dem Land, in dem sie leben, dazugehören." Die Spaltung der türkischen Gesellschaft spalte auch die türkische Community in Europa, die sich vornehmlich über Massenmedien aus der alten Heimat informiert. Aber auch etwa in Österreich produzierte Zeitungen in türkischer Sprache tragen zur Spaltung bei, so Baltaci. "Monatlich werden in Moscheen Zeitungen verteilt, die ein feindliches Europabild stärken und Erdogan-Propaganda betreiben - leider auch unterstützt durch Werbung österreichischer Parteien und Organisationen." Kronos soll dem entgegenwirken, Informationen jenseits der ideologischen Lager bieten.<p>Auch Bagdat will nicht aufgeben. "Angst ist ansteckend, genauso wie Mut." Er hofft auch, dass die EU die Türkei nicht aufgeben wird. "Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen würde uns nicht guttun, aber das heißt nicht, dass man die Türkei nicht kritisieren darf." Laut Bagdat findet auf Kosten von Menschenrechten und Menschenleben ein "dreckiger Deal" statt. Erdogan mache das brutal, aber auch Europa schaue nur auf seine eigenen Interessen. "Wir werden im Stich gelassen", sagt Bagdat. Das führe zu Verzweiflung.