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"Eine permanente Eskalation"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In der Ukraine geht es darum, noch Schlimmeres zu verhindern, sagt der OSZE-Beobachter Alexander Hug.


Wien. Österreich hat 2017 den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne. Außenminister Sebastian Kurz war deshalb erst kürzlich in der Ukraine und wird bald wieder dorthin reisen - ist doch der Ukraine-Konflikt eine der größten Baustellen der OSZE. Der stellvertretender Chefbeobachter für die Ukraine, Alexander Hug, spricht im Interview über die schwierige Mission, die zuletzt bis zu 1000 Verstöße gegen die Waffenruhe registriert hat - täglich.

"Wiener Zeitung": Die Frontlinien haben sich in der Ostukraine in den vergangenen Monaten kaum verschoben. Trotzdem kommt es ständig zu Gefechten. Warum?

Alexander Hug: Tatsächlich wird die Waffenruhe täglich gebrochen, zuletzt bis zu 1000 Mal pro Tag. Die Konfliktseiten stehen sich viel zu nahe gegenüber, in manchen Dörfern und Städten trennen sie nur 20 oder 30 Meter. Immer wieder kommen auch Zivilisten zu Schaden. Das liegt daran, dass schwere Waffen - anders, als im Minsker Abkommen vereinbart - nicht abgezogen werden. Die Gegenseite versucht wiederum, die Stellungen zu treffen, wo sich die schweren Waffen des Gegners befinden. Dadurch kommt es zu einer permanenten Eskalation.

Was kann getan werden?

Nur weil das ständig stattfindet, darf es die internationale Gemeinschaft nicht tolerieren und als das "neue Normale" akzeptieren. Es muss allen klar sein, dass jeder Schuss eine Verletzung der Waffenruhe ist. Außerdem haben es die Seiten zu 100 Prozent selbst in der Hand, die Kämpfe einzustellen. Das haben wir mehrmals gesehen, als die Kämpfe von einen Tag auf den anderen völlig eingestellt wurden. Es ist also keine Frage einer fehlenden Kommandostruktur, sondern eine reine Willensfrage.

Zugleich haben wir auf dem OSZE-Gipfel in Hamburg wenig Konsens zwischen der Ukraine und Russland gesehen.

Die Tatsache, dass es hier Austausch auf höchster Ebene gibt, ist vielversprechend. Man darf nicht vergessen, dass es dank des Dialoges - auch wenn die Kämpfe weitergehen - Kanäle gibt, durch die zumindest noch Schlimmeres verhindert werden kann.

Wie kann das Vertrauen wieder aufgebaut werden?

Die Tatsache, dass jeden Tag 30.000 bis 40.000 Ukrainer die Kontaktlinie überqueren, ist vielversprechend. Denn das zeigt, dass es einen ständigen Austausch gibt. Dort muss man ansetzen. Die Menschen selbst sehen das als homogenes Gebiet an und nicht als Grenzregion. Es gibt auch keinen unterschwelligen Gruppenkonflikt, religiöser, ethnischer oder sprachlicher Art, wie wir es in anderen Konflikten sehen. Wir brauchen aber Maßnahmen, um die Konfliktparteien daran zu hindern, sich weiter zu beschießen. Das kann nur geschehen, wenn wir die Front entflechten.

Gerade bei dieser Entflechtung gab es zuletzt Probleme, wie etwa in Stanyzja Luhanska. Warum ist das so schwierig?

Da steht natürlich viel auf dem Spiel. Aber es braucht mutige Entscheide, um Fortschritte zu machen. Wichtig ist: Die Zivilisten sind die, die von der Entflechtung profitieren - wenn die Gefechte nachlassen. Die Seiten müssen viel mehr dafür tun, den Leuten die Vorteile dieser Entflechtung klarzumachen. Das muss im Interesse aller Unterzeichner der Minsker Vereinbarungen sein.

Sie haben die "Straflosigkeit" bei der Verletzung der Waffenruhe kritisiert. Was fordern Sie konkret?

Erstens haben sich alle Seiten - die Russische Föderation, die Vertreter der Gebiete in Donezk und Luhansk und die Ukraine - mit ihrer Unterschrift dazu bekannt, die Waffenruhe einzuhalten und die Waffen abzuziehen. Eine Verletzung muss also Konsequenzen haben, sowohl in den Strukturen der regulären Streitkräfte als auch in den bewaffneten Formationen in den nicht durch die Regierung kontrollierten Gebieten. Wenn die Verstöße allerdings folgenlos bleiben, werden wir keine Fortschritte sehen.

OSZE-Beobachter wurden vor allem im Separatistengebiet immer wieder bedroht und attackiert. Wie ist derzeit die Lage?

Unsere Beobachter sind in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten immer noch mit Aggressionen konfrontiert. Sie werden eingeschüchtert, an den Checkpoints direkt mit gezogener Waffe bedroht. Es gibt auch organisierte Proteste gegen unsere Mission, wie in Donezk. Ich habe natürlich Verständnis dafür, dass sich Frust aufgestaut hat: Der Krieg geht jetzt in sein drittes Jahr, viele Dörfer standen von Anfang an unter Dauerbeschuss. Es ist klar, dass sich dieser Frust dann gegenüber der einzigen internationalen Vertretung entlädt. Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn man diese Leute ausnützt und politisch instrumentalisiert, wie wir das in organisierten Protesten sehen.

Und auf der ukrainisch-kontrollierten Seite?

Auch dort werden wir immer wieder daran gehindert, in gewisse Gebiete vorzudringen, aber nicht im gleichen Ausmaß wie auf der Nicht-Regierungsseite.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz dieses Krieges, dass der Beschuss vor allem in der Nacht losgeht, wenn die OSZE-Beobachter in ihre Basen zurückgekehrt sind. Überlegen Sie alternative Modelle?

Wir patrouillieren nicht in der Nacht, aber wir beobachten trotzdem: an unseren derzeit 14 Präsenzen entlang der Front, durch Kameras und Drohnen. Dass wir in der Nacht nicht patrouillieren, liegt nicht daran, dass wir nicht wollen, sondern daran, dass uns beide Seiten keine Möglichkeit dazu geben. Das ist eine Sicherheitsfrage. Solange uns die Sicherheit nicht garantiert wird, ist es unverantwortlich, unsere Mitarbeiter dieser Gefahr auszusetzen.

Österreich hat 2017 den OSZE-Vorsitz inne. Außenminister Sebastian Kurz kündigte an, auf Russland zugehen zu wollen, und meinte, es sei eine große Chance, in der Ukraine-Krise etwas weiterzubringen. Wie sehen Sie das?

Wir freuen uns auf den österreichischen Vorsitz, um hier auch weiterhin das Momentum nicht zu verlieren in diesem schwierigen Umfeld. Dieser Konflikt ist sehr komplex - auf verschiedenen Ebenen. Klar ist: Hier können Lösungen nicht über Nacht gefunden werden. Gerade deswegen ist es aber wichtig, nicht aufzugeben und es ständig prioritär auf der To-do-Liste zu haben. Ich bin überzeugt, dass der österreichische Vorsitz weiter zur Lösungsfindung beitragen wird.

Alexander Hug ist seit 2014 stellvertretender Leiter der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine. Davor war der Schweizer Jurist und Offizier in internationalen Missionen der OSZE und der EU in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo tätig.