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Leidenschaft und Augenmaß

Von Thomas Seifert aus Davos

Politik

Bei einer Podiumsdiskussion zu Europa beim Weltwirtschaftsforum in Davos traten die ideologischen Unterschiede zwischen Links und Rechts deutlich zutage.


Davos. "Was für ein Europa wollen wir?" Diese Frage bei einer Podiumsdiskussion sorgte für eine Kontroverse zwischen dem rechtsliberalen niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und dem scheidenden EU-Parlamentschef Martin Schulz (SPD) beim Weltwirtschaftsforum (WEF). Rutte forderte gleich in seinem Eröffnungsstatement Italien und Frankreich zu mehr Fiskaldisziplin und der Einhaltung der Kriterien des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts auf. "Frankreich und Italien müssen Reformen umsetzen." "Zu viele Länder vor allem in Südeuropa tun nicht, was sie versprochen haben", das schüre das Misstrauen zwischen nord- und südeuropäischen Mitgliedstaaten. Schulz konterte Rutte mit einer emotionalen Gegenrede: "Solche Forderungen sind nicht die Sache der Staats- und Regierungschefs. Denn es hat ja nicht die Europäische Union die Niederlande gegründet oder Deutschland oder Frankreich, sondern umgekehrt."

Frankreichs Neuverschuldung lag 2015 bei mehr als drei Prozent und damit über den Wert, der im Stabilitätspakt vereinbart worden war. Auch Italien wehrt sich gegen die Schuldenregeln und fordert mehr Spielraum. Schulz betont aber, dass es Sache der europäischen Institutionen sei, darauf die richtigen Antworten zu finden und die Regeln zu interpretieren. Wenn das die Regierungschefs machen, würde in Südeuropa rasch der Eindruck entstehen, dass Deutschland anderen Mitgliedsstaaten Lektionen erteilt.

Der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans - wie Rutte ein Niederländer - weiß, was das bedeutet - die Kommission hat den Schwarzen Peter. "Wenn ein Glas Wasser umfällt, wenn es zu regnen beginnt, dann ist Brüssel daran schuld. Natürlich sind die Mitgliedstaaten nicht glücklich, wenn wir intervenieren. Aber das ist unsere Aufgabe." Der niederländische Sozialdemokrat Timmermans springt seinem deutschen Genossen gegen Rutte bei: "Wir müssen aufhören, die Mär zu verbreiten, dass die Länder im Norden den Ländern des Südens ihr Wirtschaftsmodell überstülpen wollen. Und wir müssen aufhören, daherzuschwadronieren, dass die Bürger der Länder des Südens alle zu faul zum Arbeiten sind. Das sind doch alles Lügen." Was Europa brauche, sei Vertrauen.

"Sie sind ein Romantiker"

Schulz meinte auch, es sei zu viel verlangt, wenn 751 Mitglieder des Europaparlaments 508 Millionen EU-Bürger vertreten sollen. "Wobei: Es sind gar keine 751, sondern weniger", sagte Schulz. Manche EU-Parlamentarier säßen nämlich im Parlament, um die Europa von innen zu zerstören. "Eine davon ist sogar Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich", sagte Schulz, ohne den Namen der Rechtspopulistin Marine Le Pen in den Mund zu nehmen.

Schulz kommt immer mehr in Fahrt: Früher seien Staatsmänner wie Helmut Kohl und François Mitterrand nach Brüssel gekommen, um zu überlegen, wie man Europa stärken könnte, "heute kommen die Staats- und Regierungschefs nach Brüssel und sagen: ‚Ich bin da, ich bin gekommen, um die Interessen meines Landes zu vertreten.‘ Das machen die dann so, als wäre die EU ihr Feind." Es gehe darum, dass die Nationen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, anstatt Grenzen zu errichten. "Wenn die Regierungschefs nicht sagen, das ist unsere Union, dann hat Europa keine Chance", sagt Schulz. "Die Idee von Kohl und Mitterrand ist nicht der Weg. Sie sind ein Romantiker", sagt Rutte an die Adresse von Schulz, "ein Romantiker mit Passion. Aber was wir brauchen, ist Pragmatismus." Rutte fordert, man solle mit dem Gerede eines europäischen Superstaats aufhören, sondern sich um kollektive Sicherheit, eine Ordnung in der Migrationsfrage und Wirtschaftswachstum kümmern.

Wieder springt Timmermans Schulz gegen seinen Landsmann Rutte bei: "Ich glaube nicht, dass dieses utilitaristische Bild von Europa uns nützt. Brexit wäre nach utilitaristischen Gesichtspunkten nie passiert. Die Liberalen und Rechten müssen zugeben: Margaret Thatcher hat sich geirrt, als sie sagte, es gibt so etwas wie die Gesellschaft nicht, sondern nur Individuen. Die Liberalen haben sich geirrt, als sie sagten, wir brauchen keine Regierungen." Sogar hier in Davos - auf liberalem Boden - seien viele Gesprächspartner seiner Meinung, sagt Timmermans.

Ana Botín, Chefin der spanischen Bank Banco Santander, versuchte zu vermitteln: Europa brauche die Leidenschaft von Schulz und Ruttes Pragmatismus. Damit konnten dann schließlich alle am Podium gut leben.