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Frankreichs Norden für Le Pen?

Von WZ-Korrespondentin Judith Kormann

Politik

Le Pen führt die Umfragen an. Besonders stark ist sie in der früheren Bergbauregion Nordfrankreichs.


Hénin-Beaumont. "Lange dauert es nicht mehr, dann wird es hier wieder nur so wimmeln von Politikern und Journalisten", seufzt Bilgin Algunerhan. Mit einer raschen Handbewegung wischt der Restaurantbesitzer die Bar sauber. In seinem Lokal im Zentrum von Hénin-Beaumont sind die Volks- und Medienvertreter regelmäßig zu Gast. "Marine Le Pen war natürlich auch schon hier, mitsamt ihren Leibwächtern", erzählt er.

Seit 2014 steht die 27.000-Einwohner-Stadt in Nordfrankreich im Zentrum der Öffentlichkeit. Damals zog Steeve Briois, ein Bürgermeister aus den Reihen des rechtspopulistischen Front National, ins Rathaus ein. Bei den Regionalwahlen im folgenden Jahr bekam der Front National hier knapp 60 Prozent der Stimmen.

Auf den ersten Blick ist Hénin-Beaumont eine Kleinstadt wie viele andere. Für den Norden charakteristische Backsteinhäuser prägen das Straßenbild. Vereinzelt erinnern Loren in den Vorgärten an die längst vergangene Blütezeit der Region. Bis in die 1970er Jahre schufen Industrie und Kohlebergbau hier zahlreiche Arbeitsplätze.

Doch mit der Schließung der Minen und der Deindustrialisierung verloren viele Menschen ihre Lebensgrundlage. Heute zählt die Region zu den ärmsten Frankreichs. Die Jugend wandert ab, die Arbeitslosigkeit grassiert. In Hénin-Beaumont sind über 15 Prozent der Erwerbstätigen ohne Beschäftigung.

Den Händlern der Innenstadt machen die Einkaufszentren in der Peripherie zu schaffen. Geschäftslokale stehen leer, das Zentrum wirkt so gut wie ausgestorben. "Am Wochenende sind die meisten Leute bei Auchan", sagt die Ladenbesitzerin Caroline Dardilhac. Dieses Einkaufszentrum fünf Kilometer außerhalb der Stadt zählt zu den größten Europas.

Dardilhac hat eine Boutique unweit des Hauptplatzes. Bis 2015 pendelte die Mittvierzigerin jeden Tag zum Arbeiten nach Lille. Doch nach dem Amtsantritt von Steeve Briois beschloss sie, trotz Schwierigkeiten ein Geschäft in ihrer Heimatstadt zu eröffnen: "Monsieur Briois hilft uns, wo er kann. Er organisiert Messen und Feste, um die Innenstadt zu beleben", sagt sie hoffnungsvoll.

Briois ist seit über zwanzig Jahren in der Lokalpolitik tätig. Der 44-Jährige wuchs in der Nachbargemeinde Seclin auf. Er kommt selbst aus einer Arbeiterfamilie, kennt die Sorgen seiner Bürger und präsentiert sich als Politiker, der sich dieser annimmt. "Seit er im Amt ist, ist die Stadt sicherer und sauberer geworden", sagt ein älterer Herr, der in einem Café am Tresen sitzt.

Neben stärkerer Polizeipräsenz, Renovierungsarbeiten und der Auflösung eines Roma-Lagers macht Briois mit der Organisation zahlreicher Festlichkeiten von sich reden. Blättert man in den Gemeindezeitungen, sieht man ihn von unzähligen Fotos strahlen. Ob beim Grillfest, beim Fußballspielen mit der Jugend oder beim Tanzabend mit den Senioren. "Es ist meine Aufgabe, den Bürgern von Hénin-Beaumont nahezustehen", betont der Bürgermeister.

Lokaler Charme zur "Entdiabolisierung"

Für den Soziologen und Experten des Front National, Sylvain Crépon, ist Steeve Briois ein Paradebeispiel der neuen Strategie von Parteichefin Marine Le Pen. "Heute verlangt der Front National von seinen Kandidaten in erster Linie, ein lokales Programm zu haben und zu zeigen, dass sie eine Stadt managen können", analysierte er anlässlich des Rathaus-Einzuges von Briois 2014 das Vorgehen der Partei für die Zeitung "Le Monde". Diese Strategie würde die "Entdiabolisierung" des Front National vorantreiben und ihn schließlich auch auf nationaler Ebene stärken.

Auch wenn er sich als normaler Volksvertreter gibt, macht Steeve Briois keinen Hehl daraus zu zeigen, welcher Partei er angehört. Als im Oktober 2016 das knapp 100 Kilometer entfernte Flüchtlingscamp Calais aufgelöst wurde, lancierte der Bürgermeister eine Charta, durch die sich seine Stadt "mit allen legalen Mitteln gegen die Aufnahme von Migranten sperren werde". Ende Jänner erregte er Aufsehen mit der Aussage, der Front National könnte im Falle eines Wahlsieges Maßnahmen wie den von US-Präsident Donald Trump verhängten Einreisestopp für Muslime in Betracht ziehen.

Bei einem Teil der Bürger treffen diese Ankündigungen auf offene Ohren: "In Hénin-Beaumont bekommen wir den Andrang der Flüchtlinge nicht so stark zu spüren. Aber Calais ist nur eine Stunde Fahrtzeit entfernt und so etwas wie dort möchten wir hier auf keinen Fall erleben", sagt ein junger Mann, der am Hauptplatz auf seinen Bus wartet.

Ladenbesitzerin Dardilhac relativiert: "Natürlich bin ich nicht mit allen Vorschlägen einverstanden. Aber die Bürgermeister vor Briois taten gar nichts für uns und auf nationaler Ebene sieht es nicht anders aus." Für sie steht fest: "Wenn sich die Leute dem Front National zuwenden, dann nicht aus Überzeugung, sondern weil sie ganz einfach die Nase voll haben."

In Nordfrankreich, an der Wiege der französischen Arbeiterbewegung, waren die Städte traditionell sozialistisch geprägt. Jahrzehntelang hatten in Hénin-Beaumont linke Bürgermeister das Sagen. Diese machten aber nicht selten mit Korruption und Vetternwirtschaft von sich reden. So waren vergünstigte Wohnungen oder Stellen im öffentlichen Dienst oft Verwandten und Parteimitgliedern vorbehalten. 2013 wurde der sozialistische Bürgermeister Gérard Dalongeville wegen Veruntreuung von Steuergeldern verurteilt. Ein Knackpunkt für den Einzug des in der Region bereits gut etablierten Front National, ist der sozialistische Gemeinderat Stéphane Filipovitch überzeugt.

In Hénin-Beaumont fühlen sich die Menschen vergessen. Von der Regierung Hollande und von den "Pariser Politikern". Mitte Jänner kam der Präsidentschaftskandidat und frühere Wirtschaftsminister Emmanuel Macron in die Stadt. "Das hat uns einige Lacher gekostet", schmunzelt eine ältere Dame. "Immer wieder kommen die Politiker hierher ins Gebiet des Front National, um Staub aufzuwirbeln. Aber nach ihrem Besuch hören wir nichts mehr von ihnen."

Anders Marine Le Pen. Die Parteivorsitzende hat Hénin-Beaumont quasi zu ihrer Hochburg erklärt und lässt sich regelmäßig dort blicken. Sie erkannte die wirtschaftliche Misere und die Verzweiflung der Arbeiterklasse in Nordfrankreich bereits vor Jahren. Seit 2002 betreibt sie in der Region aktiv Wahlkampf.

Überraschungsauftritt einer regelmäßigen Besucherin

Auch am letzten Jänner-Wochenende ist Le Pen in Hénin-Beaumont zugegen. In einem Festsaal hat Steeve Briois zur Zeremonie der Neujahrswünsche geladen. An der Seite des Bürgermeisters schüttelt die Parteichefin fleißig Hände und lässt sich mit Gästen fotografieren. "Ich wusste gar nicht, dass Marine kommen würde", freut sich Jean-Pierre Descamps. Der gelernte Schmied ist 61 Jahre alt. Seit seiner Pensionierung lebt er von 900 Euro im Monat. Stolz zieht Descamps eine Mitgliedschaftskarte des Front National aus der Jackentasche: "Man stellt uns als Rassisten dar, aber der Front National ist die einzige Partei, die sich für die kleinen Bürger starkmacht", sagt er.

Mehr als 600 Gäste lauschen der Rede von Steeve Briois. In
der ersten Reihe filmt eine junge Frau die Ansprache mit ihrem Handy. Ihre Mutter klatscht fleißig Beifall. Der Bürgermeister weiß, welche Worte er wählen muss: "Es lebe Hénin-Beaumont", ruft er, "das industrielle Frankreich, das von Paris nur allzu oft vergessen wird." Im Saal ertönen Jubelrufe.