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Vater Stojanovic bleibt

Von WZ-Korrespondentin Franziska Tschinderle

Politik

Mitrovica steht wie keine Stadt im Kosovo für die ethnische Teilung zwischen Serben und Albanern. Vater Nenad Stojanović ist der letzte orthodoxe Priester, der im Südviertel lebt.


Mitrovica. Das Grundstück von Vater Nenad Stojanović ist von alten, verrosteten Stacheldrahtrollen umgeben. Wer durch das Eingangstor geht und dem gepflasterten Weg folgt, kommt an einem Polizisten vorbei. Er sitzt in einem weißen, kapselartigen Container, der einzige Kontrast zum grauen Stein der Kirche, die sich auf dem Hügel dahinter auftut. Die Sonntagsliturgie ist gerade zu Ende gegangen. Zum Abschied macht jeder das Kreuzzeichen und küsst die Heiligenikonen. Dann brechen sie in den Norden auf. Keine 500 Meter weiter überqueren sie die Brücken, die sich über den Fluss Ibar spannt. Vater Nenad und seine Familie bleiben hier. Sie sind die letzten Serben, die heute noch im Süden der Stadt leben.

"Eine Beleidigung, Kosovare genannt zu werden"

Seit dem Kosovokrieg ist die Stadt Mitrovica in zwei Welten geteilt. Der Süden wird überwiegend von Albanern, der Norden zum Großteil von Serben bewohnt. Die Brücke, welche die beiden Viertel verbindet, wurde zum Symbol für den Konflikt zwischen den beiden ethnischen Gruppen. Bis heute ist dort die militärische Nato-Mission KFOR stationiert. Die Brücke darf nur von Fußgängern überquert werden und ist noch immer nicht für den Verkehr freigegeben. "Ich fürchte mich vor dem Moment, wenn die Brücke entsperrt wird", gesteht Velko. Der junge Mann fährt mit seinem klapprigen VW Polo zum Abendessen mit Freunden. Die meisten Autos, die ihm entgegenkommen, haben kein Nummernschild. "Hier macht jeder, was er will", sagt Velko. Belgrad kommt der im Nordkosovo lebenden Bevölkerung mit Vorzügen entgegen. Velko muss weder seine Strom- noch seine Wasserrechnung bezahlen. Ihn stört das nicht. "Für mich ist es eine Beleidigung, Kosovare genannt zu werden", meint er. Am Freitag, wenn in der Hauptstadt Pristina Paraden zum neunten Unabhängigkeitstag abgehalten werden, feiert er mit Sicherheit nicht mit.

Kosovo, neun Jahre nach der Unabhängigkeit

Vor neun Jahren rief der Kosovo seine Unabhängigkeit aus. Das jüngste Land Europas ist zwar von der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten (23 von 28), aber nicht von allen UNO-Staaten (113 von 193) anerkannt, darunter Serbien, China, Russland, Spanien, Griechenland und Zypern.

Mit dem Zerfall Jugoslawiens und Unabhängigkeitsbewegungen in Slowenien, Kroatien und Bosnien wurde auch in der mehrheitlich von Albanern bewohnten Provinz Kosovo der Wunsch laut, sich vom ehemaligen Vielvölkerstaat loszusagen. Doch der serbische Präsident  Slobodan Milošević beschnitt die Rechte der Kosovo-Albaner und entmachtete die ehemals autonome Provinz durch eine Verfassungsänderung. Albaner wurden gekündigt und aus den Universitäten verdrängt. Als albanische Widerstandskämpfer die paramilitärische Organisation UÇK formierten, ging der Konflikt 1997 endgültig in eine bewaffnete Auseinandersetzung über. Nach dem Eingreifen der Nato fiel der Kosovo unter die Verwaltung der Vereinten Nationen. 800.000 albanische Flüchtlinge kehrten in ihre Heimat zurück.

Im März 2004 kam es im ganzen Kosovo zu schweren Ausschreitungen, den schlimmsten seit Kriegsende. Auch wenn sich diese Vergeltungsaktionen nicht mit den in den Neunzigerjahren an der albanischen Zivilbevölkerung verübten Massakern und Schikanen vergleichen lassen, waren sie doch für viele Serben ein traumatisches Erlebnis. Mehrere tausend Familien flüchteten, nachdem ihre Häuser gestürmt, geplündert oder angezündet wurden. Tausende Serben, Roma und Aschkali mussten aus ihren Häusern fliehen. In Mitrovica zog ein nationalistischer Mob zur einzigen serbisch-orthodoxen Kirche im Südviertel. Es ist jenes Grundstück, auf dem Nenad Stojanović heute mit seiner Familie lebt. "Am Ende des Tages wurde sie völlig ausgeräuchert", sagt er.

Der Priester mit der bodenlangen, schwarzen Kutte führt durch die Pforte der Kirche. Die Wände sind kahl, der Altar wurde durch einen unscheinbaren Holztisch ersetzt. Die erhöhte Galerie fehlt, seitdem die Flammen das Gebälk völlig abgebrannt haben. Doch die wenig einladende Kirche tut ihren Zweck: "Ohne meine Liturgien würden viel weniger Serben in den Süden kommen", meint Nenad Stojanović.

Trotzdem wird die große Sankt Demetrius Kirche im Nordteil, die auf einem neu bepflasterten Plateau über der Stadt thront, vom Großteil der serbischen Bewohner bevorzugt. Aus Bequemlichkeit? Aus Angst vor möglichen Konflikten im Süden? "Eine Sicherheitsfrage", sagt der Priester. Trotzdem habe sich die Situation in den letzten Jahren stark verbessert. "Heute haben die Menschen verstanden, dass sie sich arrangieren müssen."

Neue Spannungen zwischen Pristina und Belgrad

Seine Vorgänger mussten noch mit einem gepanzerten Fahrzeug in den Norden gebracht werden. Damals waren fünf KFOR-Soldaten für die Bewachung seiner Kirche zuständig. Heute ist es nur noch ein Polizist der kosovarischen Einheit. Zu Vorfällen kam es in den eineinhalb Jahren, in denen Stojanović hier lebt, nie.

Während der Ausschreitungen 2004 wurden zwischen 33 und 36 orthodoxe Klöster, Kirchen und Gedenkhäuser niedergebrannt oder schwer beschädigt, davon mindestens 19 mit Schutzstatus. Laut Stojanović soll sich die Zahl bis 2011 um weitere 156 Attacken erhöht haben. Auf der anderen Seite wurden während des Krieges mehr als 200 Moscheen und damit ein Drittel aller islamischen Einrichtungen im Kosovo zerstört. Einzelne Vertreter der serbisch-orthodoxen Kirche heizten die Repressionen gegen die albanische Bevölkerung unter dem Milošević-Regime zusätzlich an. Sie forderten eine Rückeroberung Kosovos mithilfe des Glaubensbruders Russland. Stojanović möchte die Politik aus seiner Kirche raushalten. Sein Wunsch ist es, dass seine vier Kinder in einem sicheren Kosovo aufwachsen. Dieses Ziel sieht er allerdings durch bewusst geschürte Propaganda auf beiden Seiten getrübt.

Seit Anfang des Jahres hat sich die Rhetorik zwischen Belgrad und Pristina verschärft. "Aus meiner Sicht gibt es derzeit keinen realen Dialog", sagt der Politikwissenschaftler Vedran Džihić. Grund für die Spannungen war unter anderem ein Propagandazug mit der Aufschrift "Kosovo ist Serbien", der in Richtung Mitrovica entsandt wurde. Pristina schickte Spezialeinheiten an die Grenze, Belgrad drohte mit dem Einsatz der Armee. "Aktuell scheinen die serbischen Nationalisten zu testen, wie weit sie gehen können," sagt der Politikwissenschafter Tobias Spöri. Ein weiterer Grund für die schlechten Beziehungen ist der serbische Haftbefehl gegen den ehemaligen UÇK-Führer und früheren Kosovo-Premier Ramush Haradinaj. In der Nähe der Brücke, vom serbischen Teil klar sichtbar, prangt in diesen Tagen ein Plakat mit seinem Bild. Darunter der Hashtag: #ourman.

Zumindest die Mauer, die Kosovo-Serben im Norden Mitrovicas errichtet hatten und die Kosovo-Albaner als Abschottungsversuch kritisierten, wurde vor zwei Wochen abgerissen. Was vielerorts als "Annäherungsversuch" interpretiert wurde, ist allerdings nur von kurzer Dauer. Die Kommunalverwaltung im Norden hat angekündigt, einen neun Betonwall zu errichten. Auch wenn dieser nur 80 Zentimeter hoch sein soll, wird er doch als politisches Zeichen gedeutet werden.

Fakt ist: Wer vom Norden in den Süden will, der kann das auch ohne die umstrittene Mauer tun. Der neue Weg zu Stojanovićs Kirche wurde 2015 in einer Art "Austauschprogramm" von Albanern bepflastert, während Serben im Norden am muslimischen Friedhof mitgeholfen haben. Langsam wächst die Stadt zusammen. Und dann gibt es immer noch junge Männer wie Velko, der ein Taxi und nicht den Bus nimmt, wenn er in die Hauptstadt Pristina fährt, aus Angst, von Albanern schief angeschaut zu werden. Gleichzeitig bleiben kosovarische Taxifahrer am Fluss wie an einer unsichtbaren Grenze stehen, aus Angst, Serben könnten ihre Autos demolieren. Und doch ist noch immer eine hässliche Stacheldrahtrolle über den Zaun von Vater Stojanović gespannt. Die gute Nachricht: Sie ist seit Jahren nicht mehr erneuert worden.