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Aufstand für Europa

Von Ronald Schönhuber

Politik

Ex-Premier Blair will Brexit noch verhindern. Sorgen bereitet die Austrittsrechnung.


London/Brüssel. Als Premierminister hatte Tony Blair seine Landsleute schon einmal mit eindringlichen Worten aufgefordert, für Europa in die Schlacht zu ziehen. Damals, im Jahr 2004, ging es um eine europäische Verfassung und ein mögliches Referendum, in dem die Briten darüber entscheiden sollten, ob sie ein "führender Partner in Europa oder ein Spieler am Rand" sein wollten. Heute, knapp dreizehn Jahre später, ist Blair längst nicht mehr Premierminister, doch für die europäische Idee steigt der ehemalige Labour-Parteichef noch immer gerne auf die Barrikaden.

Es sei Zeit, sich gegen den Brexit zu erheben und den Austritt aus der EU zu verhindern, sagte Blair am Freitag in einer Rede bei der proeuropäischen Organisation Open Britain. Die Bürger, die am 23. Juni mit knapper Mehrheit für diesen Schritt gestimmt hatten, hätten das getan, ohne die Modalitäten zu kennen. Die Regierung von Premierministerin Theresa May wolle den "harten Brexit" - also die Trennung von der EU einschließlich des europäischen Binnenmarktes - um jeden Preis, sagte Blair. Diese Kosten müssten schonungslos aufgedeckt werden.

Zur Kassa, bitte

Dass der Brexit für die Briten keine billige Angelegenheit werden wird, ist in den vergangenen Tagen einmal mehr sichtbar geworden. Im Raum steht dabei vor allem jene gewaltige Rechnung über ausstehende Verbindlichkeiten, die die EU dem Vereinigten Königreich beim EU-Austritt präsentieren will. Laut einer Analyse des Centre for European Reform, einer in London ansässigen Denkfabrik, könnten die Briten im besten Fall mit knapp 25 Milliarden Euro davonkommen, im ungünstigsten Fall könnten aber knapp 73 Milliarden Euro unten auf der Rechnung stehen.

Die Verpflichtungen Großbritanniens ergeben sich zu einem großen Teil aus dem siebenjährigen, mittelfristigen Finanzrahmen der EU (MFR), der bis 2020 läuft und den die Briten ebenso wie jedes andere EU-Mitglied unterschrieben haben. Abzüglich der bereits geleisteten Zahlungen könnte für die Briten hier ein Anteil in Höhe von bis zu 29 Milliarden Euro übrig bleiben, der sich aufgrund der bestehenden Verträge auch nur schwer wegverhandeln lässt.

Aus Sicht der EU-Kommission ist die Sache für Großbritannien allerdings nicht mit dem Jahr 2020 erledigt. Denn viele Strukturprojekte des Kohäsionsfonds - etwa der Bau von Autobahnen in wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten - laufen noch bis zum Jahr 2023. Und da Großbritannien sich auch hier vertraglich verpflichtet hat, dürften sich Forderungen der EU nach Einschätzung des Centre for European Refo auf bis zu 17 Milliarden Euro belaufen.

Als dritter großer Posten auf der Rechnung gelten schließlich die Pensionszahlungen für die EU-Beamten, die sich wohl zum bittersten Streitpunkt entwickeln dürften. Denn während Großbritannien durchaus bereit sein dürfte, für die eigenen Landsleute aufzukommen, steht man in Brüssel auf dem Standpunkt, dass die Beamten nicht für die jeweiligen Nationalstaaten arbeiten, sondern alle gemeinsam für die EU. Setzt sich die EU hier durch, würden auf der Austrittsrechnung noch einmal zehn Milliarden stehen, die dann zusammen mit verschiedenen weiteren Posten und Abzügen die geschätzte Höchstsumme von 73 Milliarden ergeben.

Mit einem derartigen Soll steht man auf der Insel freilich im krassen Gegensatz zu dem, was die Brexiteers im Rahmen der Austrittskampagne einst versprochen haben. Damals war die Rede von knapp 400 Millionen Euro, die sich die britischen Steuerzahler wöchentlich durch den EU-Austritt ersparen würden.

Verhärtete Fronten

Die Premierministerin bringt das alles in eine äußerst unangenehme Position. Denn auch wenn May nicht unbedingt der Argumentation der Hardliner folgen will, dass Großbritannien gar nichts zu bezahlen hätte, so muss sie doch bestrebt sein, die Kosten möglichst niedrig zu halten. Schließlich hat May bis jetzt weder die Wähler noch die Kleinformate im Land auf eine derartige Debatte vorbereitet, weder in den Aussagen der Premierministerin noch im Brexit-Weißbuch der Regierung findet sich ein Hinweis auf die Austrittskosten.

Mit einem Entgegenkommen der anderen EU-Mitgliedstaaten kann May allerdings nur bedingt rechnen. Denn alles, was man Großbritannien nachlässt, müsste dann von den verbleibenden Mitgliedstaaten selbst bezahlt werden. "Wenn es etwas gibt, in dem Nettozahler und Nettoempfänger übereinstimmen, dann ist es, die Rechnung für Großbritannien so teuer wie möglich zu machen", wird ein hochrangiger EU-Beamter vom "Economist" zitiert.

Derzeit scheinen sich noch beide Seiten am längeren Ast zu wähnen. So sind viele britische Verhandler überzeugt, die Angst am Ende mit leeren Händen dazustehen, würde die EU zum Einlenken bringen. In Brüssel wiederum geht man davon aus, dass London weder ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof noch den Nicht-Abschluss eines Handelsvertrags riskieren möchte. Dass sich der Brexit angesichts der schon derart verhärteten Fronten noch abmildern lässt, wollen daher nur noch die wenigsten Verhandler glauben. "Dieser Bus ist abgefahren", meinte am Freitag ein EU-Diplomat. Wohl auch für Tony Blair.