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Die vergessenen Ränder von Paris

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Die Nöte der Banlieues, der vergessenen Vororte der Metropolen, bleiben im Präsidentenwahlkampf ausgeschlossen.


Bobigny. Am Ortseingang von Bobigny hat bisher nur eine Partei Wahlkampfplakate aufgehängt: die trotzkistische Arbeiterbewegung Lutte Ouvrière ("Arbeiterkampf") mit ihrer Präsidentschaftskandidatin Nathalie Arthaud. Sie verspricht, sich für alle Abgehängten einzusetzen und für mehr soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Arthaud erhofft sich Wählerstimmen in dem Vorort im Nordosten von Paris. Willkommen im Département (Bezirk) Seine-Saint-Denis - dem ärmsten in Frankreich, berüchtigt für seine sozialen Brennpunkte. Wo die Arbeitslosenquote bis zu 25 Prozent erreicht und die der Jugendlichen doppelt hoch ist. Wo die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, überdurchschnittlich hoch ist und die große Mehrheit einen Einwanderungshintergrund hat - aber einen französischen Pass und damit das Stimmrecht.

Doch nirgendwo ist die Enthaltungsquote so hoch wie hier. An der Präsidentschaftswahl 2012 beteiligten sich nur gut zwei Drittel der Berechtigten; bei den Regionalwahlen 2015 war es gar nur einer von vier. Auch Klassenkämpferin Nathalie Arthaud dürfte daran bei der nächsten Präsidentenwahl in zwei Monaten wenig ändern. Die Menschen hier haben resigniert. "Warum sollte ich wählen? Es ändert ja eh nichts", seufzt die 24-jährige Leila, die ihre Tochter im Kinderwagen durch den Wochenmarkt am Fuße der Wohnblöcke schiebt, wo Pullis und T-Shirts ab drei Euro zu haben sind, allerlei Haushaltswaren oder Strumpfhosen. "Jedenfalls habe ich noch keinen gesehen, der etwas bewirkt hätte." Vor fünf Jahren sei das anders gewesen. "Ich habe für François Hollande gestimmt, wie alle hier", sagt die junge Frau, die als Kellnerin nach Paris pendelt.

Stigmatisiert durchHerkunft und Hautfarbe

Tatsächlich erhielt der Sozialist Hollande damals bei der Stichwahl gegen den amtierenden konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Bobigny einen Spitzenwert von 76,7 Prozent. "Hollande hat einen Aufschwung der Wirtschaft und neue Arbeitsplätze versprochen", so Leila. "Aber darauf warten wir immer noch."

Mehr Jobs, mehr Kaufkraft, ein besseres Leben, aber auch mehr Anerkennung, das wünschen sich viele Menschen in den sozial benachteiligten Vorstädten Frankreichs, den Banlieues. Sterile Hochhaustürme ragen hier in den Himmel. Gebaut wurden sie in den 60er und 70er Jahren, als die französische Wirtschaft boomte, für die Arbeiter aus den ehemaligen Kolonien in Nord- und Westafrika. Inzwischen leben darin ihre Kinder und Enkel - aber Arbeit gibt es nur noch wenig, nach und nach schlossen die Fabriken. Viele Bewohner fühlen sich als Franzosen zweiter Klasse, stigmatisiert und ausgeschlossen durch ihre Herkunft und Hautfarbe.

Hohe Wellen schlug die brutale Misshandlung eines jungen Schwarzen durch Polizisten bei einer Personenkontrolle im Pariser Vorort Aulnay-sous-Bois vor einigen Wochen: Der gedemütigte Théo L. wurde zum Symbol für Polizeigewalt und Rassismus, gegen die tausende Menschen demonstrierten; die größte Kundgebung fand in Bobigny statt. Doch den friedlichen Protest störten gewalttätige Krawallmacher, die die Polizei mit Steinen bewarfen.

Im Wahlkampf spielen die Banlieues kaum eine Rolle

Präsident Hollande besuchte den jungen Mann im Krankenhaus, zeigte Betroffenheit und Mitgefühl. Die Regierung wollte verhindern, dass die Lage eskaliert, wie in den Herbstmonaten 2005 und 2007: Damals lieferten sich junge, aufgebrachte Banlieue-Bewohner wochenlang gewaltsame Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy kündigte an, er werde die Vorstädte "mit dem Kärcher vom Gesindel reinigen". Für kurze Zeit rückten die tristen Zustände an den Rändern der Metropolen in den Mittelpunkt, die oft nur wenige Kilometer entfernt liegen - und doch in einer anderen Welt zu sein scheinen. Der Staat lancierte Renovierungs- und Integrationsprojekte; aber die Probleme blieben. Im aktuellen Wahlkampf spielen diese nur eine untergeordnete Rolle, anders als in den früheren Kampagnen, als Sarkozy Recht und Ordnung versprach und Hollande eine Beruhigung der Gemüter. Heute geht es, wenn überhaupt, meist um den Sicherheits-Aspekt.

"Ständig ist die Polizei da.Ich habe Angst vor der Gewalt"

Fast alle Kandidaten, vom Konservativen François Fillon über die Rechtspopulistin Marine Le Pen bis zum Sozialliberalen Emmanuel Macron, versprechen die Schaffung tausender neuer Polizei- und Gendarmeriestellen.

Macron will in sozial benachteiligten Orten die Zahl der Grundschüler pro Klasse halbieren, um sie besser zu fördern.

Der sozialistische Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon verspricht, mit systematischen Kontrollen gegen Diskriminierung bei der Job- und Wohnungsvergabe vorzugehen. Die Entwicklung "sozialer Ghettos" gehe einher mit dem Aufkommen von religiösem Fundamentalismus, warnt er. Junge Männer in den Vororten gelten als besonders empfänglich für die Botschaften extremistischer Organisationen. Von den tausenden Franzosen, die sich inzwischen der Terrormiliz "Islamischer Staat" anschlossen, stammen die meisten aus den Banlieues. Der frühere Premierminister und Bürgermeister der Vorstadt Évry, Manuel Valls, der Hamon bei den Vorwahlen der Sozialisten unterlag, sprach sogar von einer "sozialen und gebietsabhängigen Apartheid" im Land - einer Chancenungleichheit, die am Wohnort beginnt. Denn wer in einer verrufenen Banlieue aufwächst, startet benachteiligt ins Leben: Die guten Schulen, ein Studium an der Uni oder eine Ausbildung scheinen unerreichbar. Viele Jugendliche rutschen in Kleinkriminalität ab; der Drogenhandel floriert.

"Unten an meinem Hauseingang hängen sie rum und dealen", klagt die 59-jährige Kheira Hamzoui aus Bobigny. "Ständig ist die Polizei da. Ich habe Angst vor der Gewalt." Wählen kann sie nicht, da sie zwar bereits vor 35 Jahren von Algerien nach Frankreich kam, aber nicht die Staatsbürgerschaft besitzt. Am besten von allen Kandidaten gefällt ihr Macron, der 39-jährige frühere Wirtschaftsminister, der die üblichen Gräben zwischen Links und Rechts überwinden will. "Ich bin für die Jugend, die soll es besser machen", sagt sie lächelnd. Glaubt sie an eine schönere Zukunft auch für ihre Stadt? Kheira zuckt die Schultern, ein wenig ratlos. Dann geht sie weiter.