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Die Nachgeborenen

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Zu Sowjetzeiten wurden im Baltikum gezielt Russen angesiedelt. Längst identifiziert sich die junge Generation mit der EU und dem Westen. Doch die alten Konflikte wirken bis heute nach.


Narva. Als Denis Lartschenko geboren wurde, war die Sowjetunion bereits Geschichte. In der Schule hat Denis Estnisch gelernt und am Staatsfeiertag die estnische Hymne gesungen. Über die Frage, ob er sich mehr als Russe oder als Este sieht, hat er sich sogar mit seinem Vater zerkracht. Mit 17 Jahren zog von zuhause aus, um auf eigenen Beinen zu stehen.

Heute sitzt Lartschenko in der Kantine der Universität, einem futuristischen Bau im Zentrum von Narva. Skandinavisches Möbel-Design und Jungfamilien, die sich zum Wochenend-Brunch treffen. Hier studiert der 23-jährige Russe Wirtschaft und ist nebenbei noch Projektleiter am Institut. Sneakers, blonder Undercut, Flinserl. "Ich sehe mich als Este und als Europäer", sagt er. "Russisch ist nur meine Muttersprache."

Start-ups statt Rüstung

Narva, direkt an der estnisch-russischen Grenze, ist mit 60.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Estlands. Dass hier 95 Prozent Russen leben, ist Produkt einer bewussten Ansiedelungspolitik unter den Sowjets: So entstanden an der Ostsee wichtige Betriebe der sowjetischen Rüstungsindustrie. Kein Job für die widerspenstigen Esten, die schon von 1918 bis 1920 im Unabhängigkeitskrieg gegen die Rote Armee gekämpft sowie im Zweiten Weltkrieg teilweise mit den Nazis kollaboriert hatten, wie Moskau befand. Vor allem im Osten der neu gegründeten "Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik" wurden gezielt loyale Kader aus Russland angesiedelt. Doch die UdSSR zerfiel. Und die Russen sind geblieben.

"Die Leute sind noch zu sehr in ihrem sowjetischen Denken verhaftet", sagt Lartschenko heute. Seit kurzem nimmt Denis auch selbst an einem Pilotprojekt bei, um Start-up-Gründungen und unternehmerisches Denken in der Region zu fördern. In drei Sprachen: Estnisch, Russisch und Englisch. Ein "Laboratory of Entrepreneurship", wie er sagt. "Die Leute jammern, dass es keine Jobs gibt. "Dabei muss man sich seine Jobs doch selber schaffen!"

Lartschenko versprüht das Selbstbewusstsein einer neuen, europäischen Generation von Russen. Sie studieren in London, arbeiten in Helsinki oder reisen mit dem Schengen-Visum durch die EU. "Die junge Generation, die nach dem Ende der Sowjetzeit geboren wurde, betrachtet sich als estnische - und europäische - Russen", schreibt die Politologin Kristina Kallas. In einer Umfrage bezeichneten 88 Prozent der jungen estnischen Russen Estland als ihre Heimat, gegenüber lediglich 58 Prozent aus der Generation der Großeltern. Für die Jungen ist Russland heute kein Magnet mehr, obwohl St. Petersburg geografisch näher ist als Tallinn.

Eisschollen treiben durch den Fluss, der heute Estland und somit die EU von Russland trennt. Eine Brücke verbindet die zwei Städte: Narva, auf der estnischen, und Iwangorod, die Zwillingsstadt auf der russischen Seite. Frauen mit Trolleys und Taschen gehen zum Einkaufsbummel auf die jeweils andere Seite, für Obst auf der estnischen und Konfekt auf der russischen Seite. Narva ist ein Ort, an dem Ost und West in einer eigentümlichen Art versöhnt zu sein scheinen: Die Uferpromenade wurde zuletzt aufwendig mit EU-Geldern renoviert, während im Innenhof der wuchtigen mittelalterlichen Hermannsfeste, unter den Dänen erbaut, noch eine Lenin-Statue steht. Es soll die letzte sein, die noch in Estland steht.

"Narva ist nicht Lugansk"

Die jüngsten Ereignisse sind freilich nicht spurlos an Narva vorübergegangen. Vor allem das Jahr 2014, das Jahr der Krim-Annexion und des Ausbruchs des Krieges im Donbass, hat hier viel Misstrauen gesät. Immer öfter fiel der Name Narva, als über einen möglichen hybriden Angriff Moskaus auf russische Minderheiten im Ausland spekuliert wurde. Die Ängste haben sich als völlig unbegründet erwiesen. "Daugavpils (eine lettische Stadt mit großer russischer Minderheit, Anm.) ist nicht Donezk, und Narva ist nicht Lugansk", so der Außenpolitik-Experte Dmitri Trenin. So würden sich die Russen des Baltikums - anders als auf der Krim - nicht nach der Schutzmacht aus Moskau sehnen. "Das Donbass-Modell auf das Territorium eines Nato-Mitglieds anzuwenden, entbehrt für den Kreml jeder Rationalität", so Trenin weiter.

Dennoch stünden die Russen Estlands bis heute unter Generalverdacht, nicht loyal zum estnischen Staat zu sein. Erst zuletzt hat ein Rapper aus Narva ein Video auf YouTube hochgeladen - auf Russisch: "Ich bin ein Russe. Aber ich liebe Estland."

Ganz so euphorisch würde es Stanislaw Maksimow wohl nicht formulieren. Maksimow, schwere Schuhe, dicker Anorak, steht an einer zugigen Ausfahrtsstraße von Narva. Seine Biografie ist typisch für die Russen im Osten Estlands: Seine Großeltern kamen in den 50er Jahren von Russland nach Estland, um in der Region die streng geheime Uran-Produktion für die sowjetische Atombombe aufzubauen.

Doch heute ist er estnischer Staatsbürger. Mit dem Verein "Erinnerung" setzt sich der gelernte Ökonom dafür ein, sowjetische Kriegerdenkmäler zu restaurieren. So wie dieses hier: Wuchtige Soldatenköpfe, die aus einem Steinquader hervorspringen, im Gedenken an den Sieg der Roten Armee über die Nazis.

Sechs Monate lang wurde im 1944 um Narva gekämpft, erbittert und verlustreich. Erst zuletzt haben Maksimow und seine Kollegen sechs Soldatenleichen beim Umgraben gefunden. Seit der Unabhängigkeit Estlands habe sich aber niemand mehr um dieses Denkmal gekümmert. Völlig von Gräsern und Sträuchern soll es überwuchert gewesen sein, wie eine Ruine. "Was ist so schlimm daran, an seine Geschichte zu erinnern?" fragt Maksimow und klopft den Schnee von den Gedenkkränzen.

Befreier oder Besatzer?

Doch so einfach ist es freilich nicht. Der Zweiten Weltkrieg und die folgende Sowjetherrschaft sind bis heute ein schwieriges Thema im Baltikum: Während die Russen vornehmlich die Errungenschaften der Sowjets feiern und die Nachkriegszeit als industrielle Gründerzeit erinnern, wurden zehntausende Esten, Letten und Litauer nach Sibirien deportiert. Ein Streitpunkt, an dem sich auch heute noch die Geister scheiden: Waren die Sowjets nun Befreier oder Besetzer? Umso mehr, als der "Sieg über den Faschismus" vor allem unter dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wieder zu einem wirkungsmächtigen Narrativ instrumentalisiert wurde, wie zuletzt in der Ukraine-Krise.

So gefällt Maksimows Engagement nicht allen. Im Vorjahr wurde ein von Maksimow mitorganisierter Veteranen-Marsch am 9. Mai, dem Gedenktag zum Ende des Zweiten Weltkriegs, von Unbekannten attackiert. Immer wieder wird ihm vorgeworfen, im Sold Russlands zu stehen - was er vehement bestreitet. "Wir wollen nicht den Staat oder das System verändern", erklärt Maksimow. "Aber wir wollen, dass sich die Einstellung der Leute ändert."

Das sieht wohl auch Anna-Olga Luga so. Die 31-jährige Russin ist studierte Estnisch-Lehrerin und hat auch viele Jahre in Deutschland gelebt. Auch die Sprache ist in Estland ein Politikum: Estnisch ist seit der Unabhängigkeit Staatssprache. Wer beim Staat anheuern möchte oder die estnische Staatsbürgerschaft erhalten möchte, muss zumindest grundlegende Sprachkenntnisse nachweisen. Zu wenig, zu schlecht seien die Sprachkurse, klagt Luga, die dazu ihre Magister-Arbeit verfasst hat. Zu isoliert seien die Volksgruppen voneinander - zwei Parallelwelten, im Osten Estlands, wo fast nur Russen wohnen, vom Rest Estlands. Deswegen hat sie in der Nachbarstadt ein estnisches Sprachcafé eröffnet und lädt regelmäßig Esten aus der Hauptstadt Tallinn ein, um Russen und Esten in Kontakt zu bringen.

Jeder Einwohner wird gebraucht

Wenn man wolle, könne man die Isolation überwinden, sagt Anna-Olga, die zweifache Mutter ist und das Café neben ihrem Vollzeitjob betreibt. Umso wichtiger sei das Engagement des Einzelnen, als gerade in Narva die Abwanderung groß ist: Allein in den vergangenen 25 Jahren hat die ehemalige Industriestadt Narva 30.000 Einwohner verloren, und jedes Jahr schrumpft die Stadt weiter. "Ich möchte einfach, dass auch die Russen vom Staat angenommen werden", so Luga. Immerhin werde in einem Staat, der massiv von Abwanderung bedroht ist, jeder einzelne Staatsbürger gebraucht - ob nun Este oder Russe.