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Fragiler Frieden in Gefahr

Von Siobhán Geets

Politik

Einigen sich die Koalitionspartner in Nordirland nach den Wahlen vom Donnerstag nicht, könnte London die Direktverwaltung über die britische Provinz übernehmen. Das ist in Zeiten des Brexit ein Spiel mit dem Feuer.


Belfast/Wien. Ein Ende der politischen Krise in Nordirland ist auch nach den Wahlen am gestrigen Donnerstag nicht in Sicht. Die bisher regierenden Parteien, die irisch-nationalistische Sinn Féin und die protestantische, probritische Democratic Unionist Party (DUP) werden wohl wieder als stärkste Parteien hervorgehen - wenn auch geschwächt (Ergebnisse werden nicht vor Freitagabend erwartet). Sie müssten eigentlich zusammenarbeiten - können aber nicht mehr miteinander. Wäre die Koalition zwischen DUP und Sinn Féin eine (Zwangs-)Ehe, sie wäre unwiderruflich zerrüttet.

Viele Hindernisse versperren den Koalitionsparteien den Zugang zueinander. Seinen Gipfel fand der Streit in einem Skandal um die Förderung erneuerbaren Energien, der auch die Neuwahlen auslöste und viele Nordiren verärgert. Das Programm, auf den Weg gebracht von der damaligen Fachministerin und heutigen DUP-Regierungschefin Arlene Foster, kostete die Steuerzahler fast 600 Millionen Euro.

Zudem hat die neue Sinn-Féin-Kandidatin Michelle O‘Neill die Anerkennung von Irisch als offizielle Zweitsprache zur Voraussetzung für eine Neuauflage der Koalition gemacht - was die DUP kategorisch ablehnt.

Während die Nationalisten im Wahlkampf wie gewohnt die irische Identität in den Mittelpunkt stellten, wurden die Unionisten zunehmend nervös. Fosters Sturheit im Energieförder-Skandal wird ihre Partei Stimmen kosten, Sinn Féin könnte zum ersten Mal als stärkste Kraft hervorgehen. Umso mehr bemühte sich Foster im Wahlkampf darum, die Protestanten mit einer Mischung aus Alarmismus und britischem Patriotismus an die Urnen zu locken. Sollte Sinn Féin nun den "First Minister" stellen, warnte sie wiederholt, dann drohe ein Referendum zur Wiedervereinigung mit der Republik Irland. "First Minister" und Vize gibt es in Wahrheit zwar nur auf dem Papier, die beiden sind gleichgestellt - doch wäre ein erstmaliger Sieg der Nationalisten ein schwerer Schlag für das ohnehin schon angeschlagene Selbstbewusstsein der Protestanten in Nordirland.

Dass sich Unionisten und Nationalisten im Belfaster Parlament Stormont die Macht teilen, ist gesetzlich festgeschrieben. Das Karfreitagsabkommen von 1998 sieht vor, dass die jeweils stimmenstärksten Parteien aus dem nationalistischen sowie unionistischen Lager den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten.

Angst vor Grenzkontrollen

Nun ist es aber unwahrscheinlich, dass sich DUP und Sinn Féin innerhalb der dreiwöchigen Frist auf ein neues "Power Sharing Agreement" einigen. Es kommt also entweder zu noch einer Neuwahl oder die Macht geht vorübergehend wieder an London. "Direct Rule", die Direktherrschaft durch Westminster, gab es zuletzt von 2002 bis 2007. Würde Nordirland nun wieder von London regiert, wäre das ein Scheitern der Machtteilung zwischen Nationalisten und Unionisten.

Das wäre gerade in Zeiten des Brexit fatal für Nordirland. Sinn Féin, die im Gegensatz zur DUP für einen Verbleib in der EU geworben hatte, sorgt sich um eine Rückkehr der Kontrollen an der Grenze zu Irland. Rund 35.000 Pendler wären davon betroffen. Während auch Dublin den Friedensprozess in Nordirland durch eine "harte Grenze" in Gefahr sieht, lässt das Thema die DUP kalt. Eine Grenze zur Republik würde Nordirland vom Süden entfernen und näher an London rücken - was ganz im Sinne der Unionisten ist. Wieder von London aus regiert zu werden, wäre zwar auch für die DUP eine Niederlage, jedoch kein allzu großes Drama. Die DUP verfolgt auch beim Brexit dieselben Ziele wie Westminster und verlässt sich voll und ganz auf Premierministerin Theresa May. Für die Nordiren, die sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen haben, und für die Regierung in Dublin ist die Machtübertragung an London in Zeiten des Brexit jedoch ein Albtraum. Nordirland hätte dann gar nichts mehr zu sagen, Dublin bliebe die einzige Stimme, die Nordirlands Interessen im Zusammenhang mit dem EU-Austritt vertritt.

Zudem könnte die Direktherrschaft ein Anreiz für die verbleibenden IRA-Splittergruppen sein, neue Gewaltkampagnen zu starten. Straßenschlachten und Angriffe auf Polizisten gibt es zwar immer wieder, doch haben sie in den vergangenen Wochen wieder zugenommen.

Die Unzufriedenheit der Nordiren zeigt sich auch in der Wahlbeteiligung: Lag sie nach dem Karfreitagsabkommen bei rund 70 Prozent (die Parteien könnten einen Esel aufstellen und er würde gewählt, scherzte man damals gerne), gingen bei den letzten Wahlen im Mai 2016 nur noch 54 Prozent der Berechtigten an die Urnen. Heute werden es wohl noch weniger sein.

Protestanten ohne Führung

Die kleinen, teils überkonfessionellen Parteien nutzen das Argument, dass es diesmal besonders wichtig sei, keine der beiden Großparteien zu wählen. Zwar könnten sie von dem Zwist zwischen den Großen profitieren, doch werden diese wohl auch in Zukunft die Mehrheit der Sitze stellen. Auch die Politik in Nordirland folgt den Regeln des Sektierertums: Katholiken wählen in der Regel Sinn Féin, Protestanten die DUP.

Auch knapp zwei Jahrzehnte nach dem offiziellen Ende der Gewalt, die rund 3600 Tote forderte, ist Nordirland ein zutiefst gespaltenes Land. Schulen sind nach wie vor konfessionell getrennt, die Identitätsfrage spielt in fast alle Facetten des Alltags mit hinein. Allein in Belfast trennen knapp 100 Mauern, sogenannte "peace lines", katholische Viertel von protestantischen. Zwar stellen die Protestanten nach wie vor die Mehrheit in Nordirland, doch die Katholiken holen demografisch auf und könnten die Briten in den kommenden Jahren bevölkerungsmäßig überholen.

Das erfüllt die Unionisten, die sich ohnehin im Stich gelassen fühlen, mit Sorge. London hat Nordirland immer stiefmütterlich behandelt, Aufmerksamkeit schenkt Westminster der Provinz nur, wenn es zu Ausschreitungen kommt. Zudem kämpfen die Protestanten mit einem Macht- und Identitätsverlust - sie haben keine charismatische Führungsfigur mehr. Der presbyterianische Pastor und DUP-Gründer Ian Paisley, ein Hardliner, der sich gegen die Gleichberechtigung der Katholiken einsetzte, war so eine Führungsfigur. Das kann man von Foster nicht behaupten. Experten wie der Politologe Graham Walker von der Queens Universität Belfast glauben, dass eine Einigung zwischen DUP und Sinn Féin nach den Wahlen nur möglich ist, wenn Foster geht. Doch dafür scheint es in der DUP keinen Willen zu geben.