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"Wir sind noch lange nicht fertig"

Von WZ-Korrespondentin Lisa Arnold

Politik
Schweden hat mit 80 Prozent außerdem die höchste Frauenerwerbsquote der EU.
© Imagebank.sweden.se / Cecilia Larsson Lantz

Schweden gilt in Sachen Gleichberechtigung als Vorreiter. Was ist dran an der feministischen Utopie?


Stockholm. Wo lebt es sich als Frau am besten? Eine Antwort auf diese Frage gibt das World Economic Forum im "Global Gender Gap Report". Dieser untersucht die Kluft zwischen Männern und Frauen in den Bereichen Karriere, Ausbildung, Lebenserwartung und politisches Mitwirken. Seit die Studie 2006 ins Leben gerufen wurde, bekleiden nordeuropäische Länder Spitzenpositionen. Schweden hält sich seit acht Jahren stabil auf Platz vier. Davor liegen Island, Finnland und Norwegen. Österreich schafft es auf Platz 52 von 144.

Schweden hat mit 80 Prozent außerdem die höchste Frauenerwerbsquote der EU. Die hohe Repräsentation der Frauen in der Arbeitswelt geht auf das Familienpolitik-Manifest "Die Familie der Zukunft" der Sozialdemokraten aus dem Jahr 1978 zurück: Alle Mitglieder der Gesellschaft sollten wirtschaftlich unabhängig voneinander werden. Fast 40 Jahre später gilt Schweden als Vorzeigeland der Gleichberechtigung, und zwar in allen Bereichen. Von der Forschung bis zum Militär, wo sich Frauen seit der Heeresreform 2010 freiwillig zum Militärdienst melden können; ab 2018 sollen sie auch - genauso wie die Männer - verpflichtet werden. Denn wenn schon Gleichberechtigung, dann richtig.

Trotzdem kämpfen Schwedinnen um gleiche Bezahlung. Der geschlechtsspezifische Lohnunterschied lag 2016 bei 12,5 Prozent. Darauf macht die Frauenlobby, der Dachverband der Organisationen mit feministischen Zielen, jedes Jahr mit der Aktion "Lohn den ganzen Tag" gemeinsam mit der Gewerkschaft aufmerksam. Dabei markieren Frauen die Uhrzeit, ab der sie statistisch gesehen gratis arbeiten: Wenn Frauen ein Achtel weniger verdienen als Männer, ist an einem 8-bis-17-Uhr-Tag ihre letzte Arbeitsstunde gratis. Clara Berglund, Generalsekretärin der Frauenlobby, begeht den Frauentag am 8. März entsprechend: "Wir veranstalten eine After-Work-Party, die um 16 Uhr beginnt."

Der Lohnunterschied ist zum Großteil durch die Sektoren begründet, in denen Frauen arbeiten. Auch im hochmodernen Schweden überwiegen traditionelle Frauenberufe wie Krankenpflegerin, Kindergärtnerin und Sekretärin. 40 Prozent der Frauen und nur 11 Prozent der Männer haben Sozialberufe. Statt sich dem Bedürfnis der Frauen nach sozialen Kontakten zu widersetzen, ist ihnen die Regierung mit Einrichtungen wie 24-Stunden-Kinderbetreuung entgegengekommen, sodass auch Ärztinnen mit Kindern wiedereinsteigen können. Mit einer gesetzlich verankerten Chefinnen-Quote nach norwegischem Vorbild beschäftigt sich die schwedische Regierung trotzdem. Der Vorschlag wurde eingereicht, doch es gab zu wenig Unterstützung. Die Parteien haben unterschiedliche Ansichten, und viele meinen, Personalentscheidungen seien Sache der Unternehmen.

Auch Papa muss sich um den Nachwuchs kümmern

"Das eine perfekte Land für Frauen gibt es nicht", sagt dazu Victor Harju, Pressesprecher der Gleichberechtigungsministerin Åsa Regnér. "Aber Schweden ist eine gute Wahl." Gleichzeitig räumt Harju ein, dass man "noch lange nicht fertig" sei. Auch er verweist auf die Einkommensschere und den Unterschied bei Pensionszahlungen, wo Frauen sogar 30 Prozent hinter den Männern liegen. Das basiert in erster Linie auf dem Lohn. Darüber hinaus haben Männer öfter Stellen mit zusätzlicher Rentenversicherung - ein beliebter Bonus in Schweden -, nehmen weniger Karenztage in Anspruch und würden seltener mit dem kranken Kind zu Hause bleiben. Frauen bekommen weniger Arbeitsjahre zusammen und büßen zusätzlich ein, wenn sie mit ihrem älteren Mann in den Ruhestand gehen, auch wenn sie noch arbeiten könnten.

Als Fortschritt begrüßen sowohl Clara Berglund als auch Victor Harju den dritten Karenzmonat für Väter. Auf Stockholms Straßen begegnet man ihnen: Den jungen Männern in hellblauen Hemden, die alleine einen Kinderwagen schieben. "Pappaledighet" heißt die Institution der Väterkarenz, die in Schweden - anders als in Österreich - nicht nur möglich, sondern verpflichtend ist. Seit 2016 muss die Mutter drei Monate dem Vater überlassen, sonst verfallen sie. Auch über Lösungen für Kinder "mit mehr als zwei Eltern" macht sich die Regierung Gedanken: Finden Eltern nach einer Trennung neue Partner, sollen auch die ihren Anteil an der Erziehung des Kindes leisten dürfen.

Geht es um politische Mitbestimmung, so liegt Schweden laut "Global Gender Gap Report" erneut hinter den drei nordischen Spitzenreitern. Gro Harlem Brundtland war zwischen 1981 und 1996 dreimal Ministerpräsidentin von Norwegen, und seit 2013 regiert mit Erna Solberg wieder eine Frau. Auch Island hatte eine, Finnland hatte bereits zwei weibliche Frauen an der Spitze. "Ich bin sicher, dass auch Schweden eine weibliche Regierungschefin haben wird", sagt Harju. Wann und wer - darüber möchte sich auch angesichts der 2018 anstehenden Wahl zum Reichstag niemand äußern.

Glaubt man der Analyse der Journalistin Barbro Hedvall, dauert es noch eine Weile: "Wenn Frauen die Machtkorridore an einer Stelle betreten, verschwindet die Macht woanders. Institutionen wie die Kirche und die Verteidigung waren einflussreich, bis sie sich für Frauen öffneten." Mit anderen Worten: Bekommen Frauen in Schweden erst dann Macht, wenn es außer um Repräsentation sowieso um nichts mehr geht? Antje Jackelén ist seit 2013 Erzbischöfin der Schwedischen Kirche in einem hochsäkularisierten Land. Und eines Tages wird Kronprinzessin Victoria nach dem 1970 reformierten Thronfolgegesetz die erste Königin des Hauses Bernadotte.

Die erste feministische Regierung im Amt

Auch ohne weiblichen Chef setzt die aktuelle Regierung ein Zeichen der Gleichberechtigung. Premierminister Stefan Löfven stellte 2014 die erste feministische Regierung auf, die mit jeweils zwölf weiblichen und männlichen Ministern bewusst ausgewogen besetzt ist. Das Streben nach Gleichberechtigung zieht sich durch alle Ministerien. Ob Verteidigungs- oder Bildungsminister, jedes Ressort soll seinen Beitrag zur wirtschaftlichen Gleichstellung und der Vergrößerung des weiblichen Machtbereichs leisten. Als Neuerung steht heuer die Einrichtung einer Gleichberechtigungsbehörde in Göteborg an, die den Fortschritt überprüft.

Das Aushängeschild ist Außenministerin Margot Wallström, die ihre feministische Außenpolitik mit den Kernthemen Frauen, Frieden und Sicherheit zuweilen kompromisslos verfolgt. Ob Kritik an Saudi-Arabien oder Redeverbot in Kairo - Wallström fällt auf. Sie hat mitbewirkt, dass mehr Frauen an Friedensverhandlungen teilnehmen. "Es ist erwiesen, dass Abkommen länger halten, wenn Frauen beteiligt sind", schreibt Wallström in einem Resümee über ihre ersten zwei Jahre im Amt. Die Frauenlobby unterstützt Wallströms Linie: "In Schweden wird es akzeptiert, sich Feminist zu nennen, doch auf internationalem Parkett ist es mutig. In Zeiten von Trump und anderen Bewegungen, die die Rechte der Frauen bedrohen, ist eine feministische Außenpolitik eine starke Botschaft."

Behörden, Reformen, Verhandlungen - Feminismus findet in Schweden im großen Stil statt. Man kann die Tradition der skandinavischen Gleichberechtigung sogar bis ins achte Jahrhundert zurückverfolgen: Zur Zeit der Wikinger galt die Ehe als Allianz zwischen Partnern auf Augenhöhe. War der Mann auf Kriegszug oder Handelsreise, vertrat ihn die Frau in allen Verpflichtungen. Auch im heutigen Alltag leben einzelne Frauen und ganze Organisationen den Feminismus mit konkreten Initiativen aus.

So erhalten Filme ein A-Etikett, wenn sie Stereotypen durchbrechen und den sogenannten Bechdel-Test bestehen, indem sie zwei weibliche Charaktere namentlich vorstellen und außerdem Frauen über etwas anderes als über Männer sprechen lassen. Vom 2. bis zum 5. März feiert das feministische Filmfestival in Stockholm weibliche Regisseure und Frauengeschichten aus aller Welt. Auch die Frauenlobby macht mit handfesten Aktionen auf Gleichberechtigung aufmerksam: 2015 verteilte sie Chimamanda Ngozi Adichies Buch "We Should All Be Feminists" an alle 16-Jährigen im Land. "Wir haben einer ganzen Generation die Möglichkeit gegeben, etwas über Gleichberechtigung zu lernen. Das war stark", meint Clara Berglund.

Das eine perfekte Land für Frauen gibt es also nicht. Aber es gibt ein Land, in dem sich etwas bewegt.