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Schwankend an die Urnen

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

In den Niederlanden ist alles in Bewegung geraten. Eine Reise durch ein Land zwischen Auflösung und Aufbruch.


Amsterdam. Es ist ein guter Tag für Tulpen. In dicken Sträußen liegen sie am Blumenstand von Frans de Jong aus, rot, gelb und lila, und die Kunden kommen wie von selbst. Die Mittagssonne scheint auf den Markt in Almere, einer Satellitenstadt östlich von Amsterdam. Ab und an lässt sich ein Vogel hören. Vier Wochen noch, dann beginnt der kalendarische Frühling. Und drei bis zum "patriotischen", den Geert Wilders seit Wochen beschwört: Am 15. März will seine Partij voor de Vrijheid bei den niederländischen Parlamentswahlen die stärkste Kraft werden.

Auf Frans de Jong kann Wilders zählen: Er wird PVV wählen. "Es ist Zeit für eine Stimme gegen die gefestigte Ordnung", sagt der weißhaarige Blumenhändler, während er hinter seinem Stand fegt. Eine Stimme, entstanden aus der Summe von Enttäuschungen: Über den liberalen Oppositionspolitiker Pechtold, der im Wahlkampf allen arbeitenden Bürgern 500 Euro versprach, "aber bei mir kam er noch nicht vorbei". Über haarsträubende Pannen in der Steuerbehörde. Über das Leben, das teurer wird und für einen kleinen Unternehmer immer härter.

Im Herbst 2015 setzte sich die PVV an die Spitze der Umfragen. Mit drastischen Worten wandte sie sich gegen die Unterbringung von Flüchtlingen. Geert Wilders forderte die Bevölkerung per Twitter zum "Widerstand" auf. Meneer de Jong sprach er damit aus der Seele. "Merkel hat diesen Strom lekker in Gang gebracht. Aber das funktioniert nicht. Man bekommt die Menschen aus all diesen Kulturen nicht unter einen Hut. Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert. Alle haben ihren eigenen kleinen Betrieb: die Niederländer, die Marokkaner, die Türken. Jeder für sich."

Positionen wie diese sind die Füße, auf denen der jahrelange Aufstieg der PVV steht. Almere, in den 1970ern am Reißbrett geplant und gebaut auf einem eingepolderten Stück des Ijsselmeers, hat in dieser Geschichte einen besonderen Platz. Als die PVV hier 2010 die Kommunalwahlen gewann, bedeutete das ihren Durchbruch. Als sie vier Jahre später den nächsten Sieg einfuhr, war das schon normal. In den Niederlanden nennt man Almere, wo inzwischen 200.000 Menschen wohnen, ein "Wilders-Bollwerk".

Die Zeitungen präsentieren an diesem Tag die neuesten Umfragen. Demnach liegt die PVV an der Spitze, doch ihr Vorsprung schmilzt. Wie schätzt man in Almere die Lage ein? Eine blonde Frau um die 50 kommt von einem Behördengang aus dem Stadthaus. Was sie wählt?" PVV, schon immer. "Und davor Pim Fortuyn." Gewinnen aber werde die Partei nicht. "Viele Menschen trauen sich nicht. Sie haben Angst, dass sie negative Reaktionen bekommen. Ich wünschte, das wäre anders. Denn wenn niemand sie wählt, bleibt alles, wie es ist."

Wie es ist? Was bedeutet das für sie? "Die Wohnung, die ich wegen meiner chronischen Krankheit bräuchte, bekomme ich nicht. Aber zehn davon werden für Asylanten freigehalten. Erst lässt die Gesundheit dich im Stich, und dann auch Almere." Dass die PVV die Grenzen dichtmachen und weniger Migranten will, sagt ihr zu. Aber dass sie gegen das Aufenthaltsrecht für Kinder klandestiner Migranten ist, das geht ihr zu weit. "Warum soll man Kinder, die hier integriert sind, abschieben? Da vermisse ich Menschlichkeit!"

Wer den Aufschwung der PVV begreifen will, kommt um Widersprüchlichkeiten nicht herum. Für geschlossene Grenzen sein und für eine humane Behandlung der Kinder von Papierlosen, kann dabei durchaus zusammengehen. Diese Frau, die "in der Stadt manchmal denkt, ich bin die einzige Weiße", erzählt im nächsten Moment begeistert, sie habe "mit jedem in der Nachbarschaft Kontakt". Und wie so viele andere in diesem Land engagiert sie sich ehrenamtlich. Das Komplexe ist eben, dass die PVV in der Regel keine Stiefelnazis anzieht, sondern Durchschnittsbürger.

Der Kulturkampf sich bedroht wähnender, alteingesessener Niederländer zieht weite Kreise. Er betrifft auch eine Bevölkerungsgruppe, die seit Jahrzehnten im Land ist und als vorbildlich integriert gilt: die Menschen aus der früheren Kolonie Surinam und ihre Nachkommen. Gary Aikman, ein graugelockter Mann Mitte 50, hat dazu einige Anmerkungen. "Statistiken über Wohn-Situation und Bildung zeigen, dass Surinamer noch immer zu den schwächsten Gruppen der Gesellschaft gehören. Viele, auch gut ausgebildete, sind arbeitslos."

Aikman, seit kurz vor der Unabhängigkeit 1975 in den Niederlanden, ist einer von ihnen. Ehrenamtlich engagiert er sich bei Wi Masanga, der ältesten surinamischen Vereinigungen in Rotterdam. "Unser Haus", bedeutet der Name. Das Haus von Wi Masanga, ein altes Schulgebäude aus Backstein, liegt in einer Seitenstraße im Westen Rotterdams. Eine niederländische und eine surinamische Flagge wehen über der Tür, im Eingangsbereich hängen drei Ankündigungen: eine zum "Sonntagmittags- Bingo", eine für den "Melanated Hair Workshop", eine zur "Zusammenkunft der neuen politischen Partei Artikel 1". Letztere kann an diesem kalten Februar-Nachmittag jeden Augenblick beginnen.

Schatzmeister Aikman sieht distinguiert aus. Er trägt ein schwarzes Sakko über blauem Hemd zu seiner fein umrandeten Brille. Im Veranstaltungssaal tätigt er die letzten Handgriffe, während die Gäste eintrudeln. Was sie hierhin treibt? Gary Aikman sagt einen Satz, der seltsam bekannt klingt. "Das Vertrauen in etablierte Parteien hat abgenommen." Wohlgemerkt: Er spricht über surinamische Communities, die schon lange auf eine Verbesserung ihrer Lage warten. "Das Engagement surinamischer Politiker in diesen Parteien hatte nicht den erhofften Effekt." In diese Lücke will nun also "Artikel 1" stoßen, benannt nach dem Anti-Diskriminierungs-Paragrafen der Verfassung. Im Parteiprogramm steht "Gleichwertigkeit" zentral, unabhängig von Herkunft, Gender, sexueller Präferenz. "Darin erkennen wir uns", so Aikman. "Und dass Sylvana Simon die Gründerin ist, spricht uns natürlich an."

Rassistischer Deichbruch

Sylvana Simons ist heute eine der umstrittensten Personen im verbissenen Identitätsdiskurs des Landes. Zuvor kannte die niederländische Öffentlichkeit sie 20 Jahre lang als Show-Moderatorin in TV und Radio. "Als schwarze Frau darfst du singen, tanzen, Sport machen, aber nicht mitreden", kommentiert sie, als sie wenig später vor den mehr als 100 Gästen in dem völlig überfüllten Raum steht. Aus dem Publikum klingen Applaus und zustimmendes Lachen.

In den letzten Jahren aber fiel Simons, 46, immer mehr aus der Rolle. Erst protestierte sie gegen die populäre Brauchtumsfigur des schwarzen Nikolaus-Dieners Zwarte Piet. Die Reaktion: ein rassistischer Shitstorm. Dann ging sie in die Politik, und aus dem Shitstorm wurde ein Deichbruch. Rechtsextremisten forderten Sylvana Simons zur Emigration auf, ein selbstgeschnipseltes Video zeigte im Internet ihr Gesicht, montiert in ein historisches Foto: als aufgeknöpftes afro-amerikanisches Opfer eines KKK-Lynchmobs. Wie drastisch die Hetze über sie hereinbrechen würde, hat sie nicht erwartet, sagt Simons. Nach der Präsentation ihrer Partei sitzt sie in einem kleinen Büro im ersten Stock des Wi-Masanga-Hauses. Welchen Effekt diese Reaktionen auf sie hatten? "Es war sehr hart, aber es hat mich gestärkt. Die Heftigkeit zeigt mir, dass da etwas ist, und dass ich einen Punkt habe."

Den hat sie wohl: Eine ernsthafte Debatte über die niederländische Rolle in Sklavenhandel und Kolonialismus steckt noch in den Kinderschuhen. "Dekolonisieren von Unterricht, Institution, Polizei und Institutionen", so hat es Sylvana Simons an diesem Nachmittag gefordert. Doch das Selbstverständnis von Artikel 1, betont sie, hört nicht bei der Emanzipation der Surinamer auf. "Wir sind für alle Niederländer da. Und für alle, die nicht gehört werden. Wir haben auch viele weiße Niederländer auf der Liste und als Freiwillige."

Letztere bleiben aber Ausnahmen, denn aus der "autochthonen" Bevölkerungsgruppe, wie man hier sagt, können sich für Artikel 1 nur wenige erwärmen - zumal unter den Wählern. Selbst dass die Partei ins Parlament einzieht, ist momentan unwahrscheinlich. Entstanden ist sie erst zum letzten Jahreswechsel, als Reaktion auf eine Polarisierung, die stetig weiter fortschreitet. "Es ist immer normaler geworden, rassistische Sprache zu benutzen", konstatiert Sylvana Simons. "Die etablierten Parteien sahen einfach zu oder übernahmen sie sogar."

Es sind aber längst nicht nur ethnische Linien, die die Risse in der niederländischen Gesellschaft markieren. Im Wahlkampf-Frühjahr gibt es zahlreiche Berichte über wachsende Armut - trotz Haushaltsüberschusses, trotz Wachstum. Einer, der immer wieder Alarm schlägt, ist Jan Veldhuizen. Ein Pfarrer, der mit einer Gruppe von Freiwilligen seelsorgerisch in der Schuldensanierung tätig ist. Gefährdet, sagt er, sind vor allem Alte und "Jan Modaal". Letzteres ist ein Ausdruck für einen Durchschnittsbürger mit Durchschnittseinkommen. Wenn Jan Modaal umfällt, sagt der Pfarrer, dann Gute Nacht. Jan Veldhuizen wohnt und wirkt in Enschede, einer Stadt im Osten, nahe der deutschen Grenze bei Münster. Wer sich am Morgen dorthin aufmacht, sieht, wie das randstad genannte Ballungsgebiet der Metropolen langsam ins Ländliche übergeht. Doch auch zwischen Feldern und Bauernhöfen ziehen sich immer wieder die Autobahnen, auf denen sich, wie einem Naturgesetz folgend, Stoßstange an Stoßstange reiht. Es ist der zähflüssige Berufsverkehr, der eine Ahnung davon vermittelt, wie dicht dieses Land bevölkert ist.

"Schulden? Kann passieren"

"Schulden? Kann jedem passieren", ist der Leitspruch der Stadsbank Oost, einer gemeinsamen Einrichtung von zahlreichen Kommunen der Region. Und da es auch immer mehr Menschen passiert, ist die Warte-Ecke im Foyer voll an diesem Montagmorgen. Telefone klingeln, Rezeptionisten empfangen die Angekommenen, und Jan Veldhuizen, graue Haare, blaue Augen, offenes Gesicht, bittet in ein einfaches Beratungszimmer im Seitenflügel. Mit Armut kennt er sich aus. 1967, als er ein Junge war, traf die Entlassungswelle in den Textilfabriken der Stadt seinen Vater. "Damals habe ich 1500 weinende Männer gesehen."

Aus Veldhuizen wurde später ein gemachter Mann, Computer-Operator und dann IT-Manager beim Multinational Polaroid, und nebenher Pfarrer einer Baptistengemeinde. Den Managerjob gab er auf, weil er nicht nach London ziehen wollte. Nun bieten er und sein Team von Ehrenamtlichen denen, die hierher zur Schuldensanierung kommen, emotionale Unterstützung. Die Schuldenhöhe? "Variiert. 10.000 bis 150.000 Euro." Und die Zahl der Gläubiger? "Pro Nase durchschnittlich 20 bis 25. Das geht schnell, wenn man das eine Loch erstmals mit dem anderen zu stopfen beginnt."

Durch die Glastür lässt sich das Kommen und Gehen der Schuldner beobachten. 80 neue stoßen jeden Monat hinzu. Betroffen sind 2000 Familien alleine in Enschede, eine der ärmsten Städte des Landes, in der 155.000 Menschen wohnen. Dass private Schulden ein politisches Thema sind, steht für Pfarrer Veldhuizen außer Frage. "Privatisierung und Zeitarbeit. Steuerdruck, weniger Kaufkraft und höhere Gesundheitskosten: Dadurch ist die Lage viel schlimmer geworden." Ein Beispiel? "Das ‚Eigen-Risiko‘, das jeder Niederländer für bestimmte medizinische Dienste zuzahlt, liegt bei 385 Euro pro Jahr. In der Unterschicht kann man das nicht bezahlen. Also gehen die Leute nicht mehr zum Arzt."

Ein Kollege klopft an die Tür. Veldhuizen muss gleich aufbrechen, ein Notfall. Zuvor stellt der Pfarrer noch eine drastische Analyse auf. "Vor allem die sozialen Einschnitte der letzten fünf Jahre greifen das Schmieröl der Gesellschaft an. Das Vertrauen in die Politik sinkt." Dass im Parlament nur Lügner am Werk seien, hört Jan Veldhuizen fast täglich. Ebenso wie er die Sympathien für die PVV wachsen sieht. "Die Damen und Herren in Den Haag haben es selbst heraufbeschworen, wenn es nächsten Monat ein Ergebnis gibt, bei dem sie umfallen."