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Die Wahl der Fragezeichen

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

Noch nie war der Abstand zwischen den stärksten Parteien bei einer Parlamentswahl so gering.


Amsterdam. Der vermeintliche Titanenstreit des niederländischen Wahlkampfs geriet zum ungleichen Kräftemessen. Am Montagabend trafen sich Mark Rutte und Geert Wilders in Rotterdam zu einem TV-Duell. Der Premier genießt nicht nur breite Unterstützung für sein Auftreten in der Türkei-Krise - in einer Umfrage zu Wochenbeginn unterstützten rund 90 Prozent der Befragten die Position der Regierung. Der Rechtsliberale hat auch nach einem eventuellen Wahlsieg alle Möglichkeiten einer Koalition. Für Wilders aber war es just Rutte, der zu Beginn des Wahlkampfs die letzte Tür zuschlug. Alle anderen relevanten Parteien hatten bereits davor ein Abkommen mit Wilders Partij voor de Vrijheid (PVV) ausgeschlossen.

Kurz vor dem Urnengang unterstrich Rutte noch einmal die Ankündigung, "nie" mit der PVV regieren zu wollen. Wilders reagierte mit einer Tirade: Rutte plane den Ausverkauf des Landes, die Wähler sollten ihn davonjagen. Rutte hatte, in Anlehnung an die kommenden Wahlen in Frankreich und Deutschland, die niederländische zum "Viertelfinale gegen den Populismus" erkoren. Wilders machte dagegen klar: "Für mich ist es kein Viertelfinale, sondern das Finale."

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Flügellahmer Wilders

Wilders, der seit Jahren die politische Agenda der Niederlande entscheidend prägt, ist in Bedrängnis. Einer Umfrage vom Montag zufolge liegt die PVV, die zu Jahresbeginn noch einen deutlichen Vorsprung auf die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) hatte, mit 22 Sitzen nun deutlich hinter der Rutte-Partei (26). Wilders kann also mit hoher Wahrscheinlichkeit das Blatt nicht mehr wenden und die Wahlen gewinnen. Abgesehen davon wirkt er, der zum Jahreswechsel noch vollmundig getönt hatte, das Land "aufzuräumen", seltsam flügellahm, seit klar ist, dass die PVV keine Chance auf eine Regierungsbeteiligung hat.

Was die Parteien betrifft, prägen unmittelbar vor dem Urnengang zwei Auffälligkeiten das Bild: Zum einen waren zu Wochenbeginn noch immer 40 Prozent der Wähler unentschieden, wie vor dem TV-Duell zwischen Rutte und Wilders seitens der Veranstalterin, der Nachrichtensendung "EenVandaag", bekanntgemacht wurde. Hinzu kommt, dass der allgemein erwartete Zweikampf zwischen VVD und PVV in dieser Form nicht stattfand. Vielmehr liegen die aktuell stärksten Parteien auf Tuchfühlung.

Bemerkenswert ist in erster Linie der stetige Aufstieg der Christdemokraten (CDA). In der jüngsten Ausgabe der Website Peilingwijzer, der den Durchschnittswert aus sechs Erhebungen ermittelt, liegen sie auf 19 Sitzen, gefolgt von den liberalen Democraten66 (D66, 18) und GroenLinks (GL, 17). Bei solch geringen Abständen, so der zuständige Politologe Tom Louwerse von der Universität Leiden, könne ein überraschendes Ergebnis von ein oder zwei Parteien das Gesamtresultat entscheidend verändern. Dementsprechend präsentieren sich auch die Spitzenkandidaten von GroenLinks, D66 und CDA als mögliche kommende Premierminister.

Unbeeindruckt von Drohung

Überschattet werden die letzten Wahlkampftage von dem Konflikt mit der Türkei, der in der Nacht von Samstag auf Sonntag eskaliert war und zu gewalttätigen Demonstrationen in Rotterdam geführt hatte. Am Sonntagabend gab es in Amsterdam erneut Proteste, bei denen die Polizei abermals einen Wasserwerfer einsetzte. Dabei protestierten etwa 250 türkischstämmige Bürger. Einige bewarfen die Polizisten mit Steinen, und der Hitlergruß wurde gezeigt. 13 Demonstranten wurden festgenommen.

<box help="">Auch die TV-Debatte von Montag widmete sich vor dem eigentlichen Programm dem Thema. Während Wilders forderte, den türkischen Botschafter auszuweisen, betonte Rutte die Notwendigkeit einer Lösung des Konflikts. Sollte aber die Türkei auf weitere Eskalation setzen, müsse man sich "entsprechend verhalten".</box>

In einer RTL-Sendung am gleichen Abend nannte der Premier die angekündigten türkischen Sanktionen gegen die Niederlande "total bizarr". Von der türkischen Drohung, die Krise könnte den Flüchtlingsdeal mit der EU beeinflussen, zeigte er sich unbeeindruckt. "Das hören wir ständig. Der Deal ist auch im Interesse der Türkei."

Der sozialdemokratische Außenminister Bert Koenders wies am Montag die türkische Forderung zurück, niederländische Polizisten wegen ihres Vorgehens gegen Pro-Erdogan-Demonstranten juristisch zu verfolgen. Das Ministerium veröffentlichte am gleichen Tag eine Reisewarnung. Wegen "diplomatischer Spannungen" rief man Niederländer auf, in der gesamten Türkei vorsichtig zu sein und Plätze und Versammlungen zu meiden.

Versöhnliche Vereinigungen

Versöhnliche Töne im Streit zwischen Den Haag und Ankara kamen unterdessen von mehreren türkisch-niederländischen Vereinigungen. Nach einer Unterredung mit Sozialminister Lodewijk Asscher distanzierten sie sich von den Nazi-Vergleichen der türkischen Regierung wie auch der Gewalt von Demonstranten gegen Polizisten. Asscher sagte, die Vereinigungen wollten "kein Spielball türkischer Politik oder Interessen" sein.

Profitiert AKP-nahe Partei?

Besonderes Augenmerk liegt nun auf der neuen Partei Denk. Diese bezeichnet sich als "Partei aller Niederländer", zielt aber vor allem auf die muslimische und speziell türkischstämmige Bevölkerung. Die Parteigründer, Tunahan Kuzu und Selçuk Öztürk, fallen durch latente AKP-Nähe auf. In den letzten Umfragen werden ihr zwei Sitze zugerechnet.

Im Zuge der Ereignisse von Rotterdam könnte Denk bei den Wahlen profitieren. Die Partei selbst gibt fünf als Ziel an. Der Rat marokkanischer Moscheen in den Niederlanden (RMMN) klagt nun, die Partei setze Moscheen unter Druck, um eine Wahlempfehlung für Denk auszusprechen. Nach einem Bericht des öffentlich-rechtlichen Senders NOS gibt es mehrere entsprechende Beschwerden. Denk weist die Vorwürfe zurück.

Warum wird Mittwoch gewählt?

Die Niederländer wählen fast immer an einem Mittwoch. Warum eigentlich? An diesem Tag haben alle Grundschüler traditionell am Nachmittag schulfrei. Der normale Betrieb in den Schulen, in denen ja die meisten Wahllokale sind, wird daher an einem Mittwoch am wenigsten gestört.

Aber es gibt noch einen Grund: So viel Stimmberechtigte wie möglich sollen auch zur Wahl gehen können. Daher sind Freitag, Samstag und Sonntag keine geeigneten Wahltage. Denn ab Freitag (Sonnenuntergang) und am Samstag dürfen orthodoxe Juden nicht wählen und am Sonntag wiederum nicht die strenggläubigen Protestanten.