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"Der Deal ist auch im Interesse der Türkei"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Gerald Knaus, Mitarchitekt des Flüchtlingspakts, hält Europa nicht für erpressbar.


Der Deal, der am 18. März 2016, in Brüssel geschlossen wird, sieht auf den ersten Blick nach einer Win-win-Situation aus. Die auch innenpolitisch stark unter Druck gekommene deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bekommt nach zähem und fast aussichtslos wirkendem Ringen doch noch ihre europäische Lösung in der Flüchtlingskrise. Für die Türkei bedeutet die Zustimmung zu dem Pakt, der unter anderem die Rücknahme von in Griechenland angekommenen Schutzsuchenden vorsieht, nicht nur finanzielle Hilfen in der Höhe von sechs Milliarden Euro. Der Regierung in Ankara wird auch eine Wiederbelebung des so gut wie eingefrorenen EU-Beitrittsprozesses und die lange ersehnte Visafreiheit für ihre Bürger in Aussicht gestellt.

Dass der vor einem Jahr besiegelte Deal auf wackeligen Beinen steht, wird aber bereits nach wenigen Wochen offensichtlich. So beginnt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Flüchtlingspakt öffentlich in Frage zu stellen, weil er die von der EU geforderte Änderung der Anti-Terror-Gesetze als zu weitreichend empfindet. "Wir gehen unseren Weg, geh Du Deinen Weg", sagt er im Mai 2016 an die Adresse der EU. "Einige Dich, mit wem Du willst." Neuerlich als Faustpfand kommt der Flüchtlingspakt zum Einsatz, als Deutschland, die Niederlande und Österreich die Auftritte türkische Politiker untersagen, die in diesen Ländern für das am 16. April stattfindende Verfassungsreferendum werben wollten. Zuletzt droht der türkische Innenminister Süleyman Söylu mit massiven Konsequenzen. "Wenn ihr wollt, schicken wir euch die 15.000 Flüchtlinge, die wir jeden Monat zurückhalten", sagt Söylu am Donnerstagabend.

Gerald Knaus, einer der Mitarchitekten des Flüchtlingsdeals, glaubt dennoch nicht, dass Ankara das Abkommen völlig aufkündigt. Denn auch die Türkei profitiere davon, sagt der Chef des Thinktanks European Stability Initiative im Interview.

"Wiener Zeitung:"In den letzten Tagen und Wochen hat sich einmal mehr deutlich gezeigt, dass der türkische Präsident Erdogan den Flüchtlingspakt auch als Faustpfand begreift. Wie lange soll sich Europa noch erpressbar machen?

Gerald Knaus: Die Annahme, dass sich Europa erpressbar gemacht hat, teile ich nicht. Deutschland hat etwa im letzen Jahr im Bundestag eine Armenier-Völkermordresolution verabschiedet. Und die Kritik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber Menschenrechtsverletzungen ist bei ihren Besuchen in Ankara um vieles deutlicher als das, was man aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien hört. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es hier aber keinen Flüchtlingsdeal mit der Türkei beziehungsweise kaum Abhängigkeiten. Und wenn man die Kritik und die öffentliche Diskussion gegenüber der Türkei mit dem Auftreten gegenüber Ländern wie dem Iran, Ägypten oder Algerien vergleicht, dann merkt man, dass die Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei um vieles höher ist. Und das ist natürlich auch gut so.

Die Anfeindungen aus der Türkei werden aber von Woche zu Woche wütender. Erst am Mittwoch hat Ankara die Rücknahme von in Griechenland angekommenen Flüchtlingen ausgesetzt.

Die Grundidee hinter dem Abkommen - und darum hat es ja trotz dieser enormen Spannungen bis jetzt gehalten - ist, dass es auch ein Abkommen in türkischem Interesse ist. Denn die Türkei bekommt dadurch extrem wichtige Unterstützung. Wir sprechen hier nicht zuletzt von einigen Milliarden Euro, die die Türkei erhält, um die Lage der Syrer im Land zu verbessern. Die Türkei ist ja mit mehr als zweieinhalb Millionen Menschen immer noch das Land mit den meisten Flüchtlingen auf der Welt und dementsprechend wichtig ist die Integration dieser Leute. Die Kinder, die in die Schule gehen müssen, kosten aber Geld, ebenso wie die Sozialhilfe, die jetzt mit Hilfe von EU-Geld ausbezahlt wird. Und man darf nicht vergessen, dass die Türkei aufgrund des langsamen Arbeitens der griechischen Behörden im letzten Jahr weniger Leute zurückgenommen hat als in den drei Monaten vor dem Abkommen. Das heißt, für die Türkei ist dieses Abkommen Hilfe bei der Integration von Flüchtlingen zu relativ geringen Kosten. Und dazu kommt noch, dass es genauso im türkischen wie im griechischen Interesse ist, dass nicht wieder hunderte Menschen in der Ägäis ertrinken.

Ich würde gerne an das gerade gezeichnete Bild anschließen, dass bald wieder hunderte Menschen ertrinken könnten. Die Flüchtlinge wissen in der Regel sehr gut darüber Bescheid, wie leicht oder schwer man auf den jeweiligen Fluchtrouten vorankommt. Glauben Sie, dass tatsächlich noch einmal so eine Massenbewegung einsetzt, wenn der Deal scheitert, die Balkanroute aber so gut wie zu ist?

Wir können uns nur an dem orientieren, was kurz vor dem Abkommen passiert ist, also an jenen Märztagen 2016, an denen die Balkanroute bereits gesperrt war, das Abkommen aber noch nicht in Kraft war. Und da sind immer noch jeden Tag mehr als tausend Leute gekommen. In den ersten Monaten dieses Jahres waren es hingegen weniger als 50. Ob es dann 100, 200 oder 500 am Tag werden, wenn die Türkei das Abkommen aufkündigt, kann derzeit niemand vorhersagen. Was wir allerdings schon wissen, ist, über welche Kapazitäten die griechischen Behörden derzeit verfügen, um ankommende Migranten menschenwürdig aufzunehmen und deren Anträge zu bearbeiten. Die Überforderung des griechischen Systems, die jetzt schon da ist, würde bei einer Aufkündigung des Deals sehr, sehr schnell riesengroß werden. Und wir stünden nicht nur in Griechenland vor einer enormen sozialen Herausforderung, auch der Druck auf die Balkanroute würde massiv zunehmen. In Mazedonien gibt aber bereits jetzt eine politische Krise, weil es keine Regierung gibt.

Aber die Schließung der Balkanroute hat doch Wirkung gezeigt.

Von den 60.000 Leuten, die jetzt eigentlich offiziell auf dem griechischen Festland sein müssten, hat sich schon mehr als die Hälfte auf den Weg nach Mitteleuropa gemacht und ist dort angekommen. Wenn Sie sich die Zahlen für Österreich ansehen, wer aller nach der Schließung der Balkanroute weiter ankommt, dann sehen sie zwar, dass es sehr viel schwieriger geworden ist, denn man muss jetzt Schlepper bezahlen und es ist riskanter. Aber die Balkanroute ist natürlich nicht zu.

Derzeit sieht es so aus, dass viele europäische Staaten lieber auf eine zusätzliche Abriegelung der Balkan-Route setzten wollen als auf einen fragilen Deal mit der Türkei.

Es stellt sich hier natürlich die Frage, welche Länder das sind. Griechenland hat natürlich kein Interesse daran, dass man versucht, da ganze Land in ein Lager zu verwandeln, wo alle festsitzen. Mazedonien ist ein armes Land mit einem sehr schwachen Asylsystem und einer winzigen, unterbezahlten Polizei. Ob dieses Land in der Lage und auch willens ist, das zu bewerkstelligen, ist auch zu hinterfragen. Und dafür, dass man jetzt in Trump-Manier unüberwindbare Zäune quer über den ganzen Balkan baut, sehe ich derzeit keine konkrete Pläne. Und zuletzt würde diese Strategie auch zu den gleichen Bildern führen, die wir seit 2015 kennen. Nämlich Menschen, die in den Lastwagen ersticken, Menschen, die in den Bergen erfrieren, das Aufleben des Schlepperwesens.

Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative. Der 46-jährige Südosteuropa-Experte hat die Denkfabrik vor 18 Jahren in Sarajevo gegründet.