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Ein böser Verdacht

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Ankara habe den Putschversuch selbst gelenkt, behaupten die türkischen Sozialdemokraten.


Istanbul. Wusste die islamisch-konservative AKP-Regierung vom Putschversuch am 15. Juli vergangenen Jahres? Ließ sie die Armeeoffiziere gewähren? Hat sie den Staatsstreich womöglich selbst gelenkt? Das ist ein böser Verdacht, den politische Beobachter immer wieder geäußert haben - und den die Regierung stets scharf zurückwies. In der Endphase des Wahlkampfs um das Verfassungsreferendum über die Einführung eines exekutiven Präsidialsystems griff die größte türkische Oppositionspartei CHP die Vorwürfe nun erstmals offiziell auf und löste damit eine erregte Kontroverse aus.

Der Chef der Sozialdemokraten, Kemal Kilicdaroglu, erklärte am Montag vor Journalisten in Istanbul, dass der Staatsstreich mit dem Wissen der Regierung geschehen und deshalb ein "kontrollierter Putsch" gewesen sei. Wie erwartet reagierten Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim heftig. Sie beschuldigten den Oppositionsführer, das türkische Volk zu beleidigen und dessen heroischen Widerstand mit mehr als 240 Toten zu beschmutzen. Das Volk habe mit hohem Blutzoll verhindert, dass Verschwörer um den Islamprediger Fethullah Gülen den Präsidenten stürzen konnten.

"Alles Lügen"

Der CHP-Chef Kilicdaroglu begründete seinen Vorstoß mit Unstimmigkeiten in offiziellen Darstellungen der Abläufe am Putschtag und mit Verschwörerlisten, die die Regierung unter Verschluss halte. Auf seine Frage an die Regierung, ob es wirklich einen Putschversuch um 21.30 Uhr gegeben haben könnte - alle anderen Staatsstreiche fanden in den frühen Morgenstunden statt -, habe man geantwortet: "Es passierte um diese Zeit, weil der Putschversuch verraten worden war." Kilicdaroglu folgert daraus, dass die Regierung "vorher von dem Putsch wusste". Auch würden gerichtliche Aussagen von Gülenisten aus der sogenannten Fethullaistischen Terror-Organisation (Fetö) die Sichtweise stützen, "dass es sich um einen kontrollierten Putsch handelte". Kilicdaroglu kündigte an, seine Partei werde in den kommenden Tagen ein "spezielles Dossier" mit Beweisen vorlegen. Kilicdaroglu hatte sich nach dem 15. Juli hinter den Präsidenten gestellt und bis heute weitgehend mit Kritik zurückgehalten. Umso härter reagierte Erdogan nun. "Wenn es Akten gibt, leg sie offen! Aber alles, was du sagst, sind Lügen", sagte der Staatschef am Montag in der Schwarzmeerstadt Rize.

Sollte Kilicdaroglu tatsächlich neue Fakten über den Ablauf des Putschtages vorlegen können, hat er den Zeitpunkt günstig gewählt. Nach neuesten Umfragen liegen Befürworter und Gegner des Präsidialsystems, das Erdogans Macht deutlich ausweiten würde, Kopf an Kopf. Dass die Opposition das Thema überhaupt zu ihren Gunsten aufgreifen kann, hängt mit der Aufarbeitung der Putsch-Vorgänge zusammen, die der CHP-Abgeordnete Sevgin Tanrikulu gegenüber der "Wiener Zeitung" als "katastrophal" bezeichnet: "Die Befragung fast aller wichtigen Zeugen, die wir vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefordert haben, vom Generalstabschef über den Chef des Geheimdienstes bis zum Staatspräsidenten, wurde von der AKP abgelehnt." Es sei bekannt, dass der Geheimdienstchef Hakan Fidan schon Stunden vor dem Putsch informiert gewesen sei. "Aber wir durften ihn nicht befragen. Ich bin überzeugt, dass man uns wichtige Informationen verheimlicht."

Putschversuch als Vorwand

Oppositionsführer Kilicdaroglu legte den Finger auf eine Wunde, als er darauf hinwies, dass die Regierung zwar Zehntausende mit mutmaßlichen Fetö-Verbindungen verhaften ließ, weil sie die unter Gülenisten beliebte Verschlüsselungs-Software ByLock zur Internet-Kommunikation benutzt hätten - aber seltsamerweise keine Politiker. "Es ist bekannt, dass es in der AKP-Führung 120 bis 180 ByLock-Nutzer gibt. Sie sollten geoutet werden", forderte er die Regierung auf. "Wenn Sie diese Liste verstecken, bedeutet es, dass Sie Fetö nicht bekämpfen. Das deutet darauf hin, dass der 15. Juli ein kontrollierter Putsch war." Er bezeichnete die ByLock-Nutzer in der AKP als "politischen Zweig der Putschisten". Tatsächlich war die AKP mit der Gülen-Bewegung verbündet, bis sie sich 2013 überwarfen.

Kilicdaroglus Vorwürfe stützen Theorien, wonach Erdogan und die AKP-Führung zwar von dem Putschversuch wussten, ihn aber nicht verhinderten, um ihn als Vorwand zum Vorgehen gegen Kritiker zu benutzen. Sie decken sich auch mit Erkenntnissen westlicher Geheimdienste. So äußerten Vertreter des Bundesnachrichtendienstes, des Außenpolitischen Komitees des britischen Parlaments und des Geheimdienstausschusses im US-Parlament übereinstimmend, die von der türkischen Regierung vorgelegten Beweise für die zentrale Steuerung des Putsches durch die Gülen-Bewegung seien nicht überzeugend. "Irgendwann wird die Wahrheit ans Licht kommen", sagt Tanrikulu.