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Der Beginn der Stunde Null

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Vor drei Jahren fiel Slowjansk in die Hände der pro-russischen Separatisten - der Krieg in der Ostukraine begann.


Slowjansk. Eine schusssichere Weste, ein Föhn und Kinderfotos. Das sind die Dinge, mit denen Katja damals aus Donezk floh. Dass es ein Abschied auf Jahre, vielleicht sogar für immer sein könnte, hätte sie sich damals nie gedacht. Fünf Mal ist sie mit ihrer Familie allein im vergangenen Jahr schon umgezogen. "Ich bin von alledem schon so unendlich müde geworden", seufzt sie.

Es ist nur eine der Geschichten, die die Wände im Jugendzentrum erzählen. Junge Ostukrainer, die in Fotos und Texten ihr Leben seit der Flucht aus dem Kriegsgebiet dokumentieren. Jewgenij Skripnik, ein schlaksiger Jugendlicher im Kapuzenpulli, führt durch die Räume. Der Krieg hat viel Leiden in den Donbass gebracht, sagt er, und weist auf die Bilder an der Wand. Zugleich war es ein "Weckruf", sagt der 19-Jährige abgeklärt. "Mir wurde klar, dass ich selbst aktiv werden muss."

So hat Skripnik vor zwei Jahren mitgearbeitet, das Zentrum "Teplizja" (zu deutsch: Wintergarten) in der ostukrainischen Stadt Slowjansk aufzubauen. Unterstützt von einer Stiftung aus der Westukraine haben sie sich in ein Gassenlokal im Stadtzentrum eingemietet. Helle Räume, ukrainische Gedichte an der Wand, Flipcharts. Der Regen prasselt auf das Vordach, draußen reihen sich graue Plattenbauten aneinander, auf denen Plakate hängen: "Donbass - unser Landstrich." Am Abend wird ein Dichter in Landestracht die Ukraine besingen und über Natur und Heimat philosophieren. Die Gäste werden die Fragen auf Russisch stellen, er wird auf Ukrainisch antworten.

Nicht immer war die Lage hier so entspannt. Am 12. April 2014 wurden in Slowjansk Verwaltungsgebäude unter der Leitung des russischen Kommandeurs und Geheimdienstlers Igor Girkin (Kampfname: Igor Strelkow) besetzt. Dass die Stadt kurz darauf von der ukrainischen Armee beschossen wurde, gilt als Beginn des Krieges in der Ostukraine, der bis heute anhält und laut UN-Angaben an die 10.000 Todesopfer gefordert hat.

Dabei kam Slowjansk noch relativ glimpflich davon: Schon im Sommer 2014 kam die 110.000-Einwohner-Stadt wieder unter ukrainische Kontrolle. Heute verläuft die Frontlinie zwischen der Armee und den pro-russischen Separatisten 80 Kilometer weiter im Osten. Während es entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie keinen Tag gibt, an dem die Waffen schweigen, spricht man in Slowjansk schon längst von einer "Nachkriegszeit". Optisch ist Slowjansk fest in ukrainischer Hand: Kaum ein Geschäft, das nicht die blau-gelbe Fahne gehisst hat, kaum ein Plakat, das nicht die Einigkeit mit Kiew beschwört.

Verschlafene Provinzstadt mit alter Sowjetmentalität

Dass gerade in Slowjansk die pro-russischen Separatisten Fuß fassen konnten, sei kein Zufall gewesen, glaubt Skripnik. Eine verschlafene Provinzstadt, wirtschaftlich eng mit Russland verflochten, stark von sowjetischer Mentalität geprägt und daran gewöhnt, dass andere über ihr Schicksal entscheiden: Das habe viele in Slowjansk empfänglich für die Losungen des "Russischen Frühlings" gemacht, der mit einem besseren Leben im Verbund mit Russland lockte. Offen für die russische Propaganda, die die Politiker in Kiew als Faschisten schmähte. Nur eine mündige Zivilgesellschaft könne verhindern, dass sich solche Ereignisse wiederholen. "Nur, wer seine Heimat und seine Geschichte kennt, ist immun gegen die Propaganda", sagt Skripnik.

Wenige Meter weiter ist der Hauptplatz von Slowjansk. Die Schneeschmelze hat die Schlaglöcher in tiefe Wasserlachen verwandelt. Vom wuchtigen Bronze-Lenin ist nur noch der Sockel geblieben, wie bei so vielen Statuen in der Ukraine, die im Zuge der "Ent-Kommunisierung" gestürzt wurden. Dahinter ragt ein fünfstöckiger Betonblock in den Himmel. Ein Plakat in Blaugelb, den Farben der ukrainischen Flagge, heißt die Besucher in der Stadtverwaltung willkommen. Gerade hier haben sich vor drei Jahren die Separatisten wie in einer Festung verschanzt und zum Widerstand gegen die neue Regierung in Kiew aufgerufen.

Denis Bihunow, der zuvor in der Stadtverwaltung arbeitete, erinnert sich noch gut daran. Als Girkins Männer über Slowjansk herrschten, wurde sein Arbeitszimmer zu einer Folterkammer umgebaut. Im Keller des Gebäudes wurden Menschen gefangen gehalten, wie auch die damalige Bürgermeisterin, die zu Beginn noch mit den Separatisten sympathisiert hatte, doch dann in Ungnade fiel. Bihunow hielt sich in dieser Zeit von den Kämpfern fern. Handtücher, Klebestreifen und eine Matratze, mit Schmutz und Speichel übersäht, fand er in seinem Kabinett vor, als die russischen und pro-russischen Kämpfer aus der Stadt türmten. Doch diese schlimmen Bilder sind nicht der Grund, warum er heute nicht mehr in der Verwaltung sitzt. Der 29-Jährige wollte auch seine Heimatstadt im Sinne der "Revolution der Würde", wie die Protestbewegung des Maidan von Anhängern genannt wird, umbauen. Die Ziele: für eine EU-Annäherung, für ein pro-ukrainisches Bewusstsein und gegen Korruption.

Dafür hat Bihunow die Seiten gewechselt. Er ist Aktivist der Organisation "Starke Kommunen" geworden. Von der US-Entwicklungsagentur USAID unterstützt, deckt er mit Kollegen Missstände in der Regionalpolitik auf und pocht auf Bürgerrechte. Als sich der Bürgermeister zuletzt mit Staatsgeldern Sendezeit bei einem lokalen Fernsehsender kaufte, ging Bihunow damit an die Öffentlichkeit und organisierte einen Protest. Der Vertrag mit dem Fernsehsender wurde aufgelöst, die 100.000 Hrywnja (knapp 3500 Euro) wieder in das Staatsbudget zurückgezahlt.

"Die Politik weiß jetzt, dass wir sie kontrollieren", sagt Bihunow. Inzwischen nimmt der Bürgermeister an Diskussionsrunden der Aktivisten teil. Die Sitzungen des Stadtrads werden online übertragen. So sei es gerade die korrupte Elite im Donbass gewesen, die nie vor seinen Bürgern Rechenschaft ablegen musste, die den "Russischen Frühling" erst ermöglicht habe. Dass die Politiker heute offener für den Dialog sind, ist einer der kleinen Schritte, die Slowjansk seit 2014 verändert haben, glaubt Bihunow.

Bar jeder wirtschaftlichen

Zukunftsperspektive

Doch eine aufkeimende Zivilgesellschaft und ein Jugendzentrum sind das eine - eine stabile Wirtschaft, die den Menschen auf lange Sicht eine Zukunftsperspektive gibt, das andere. Zwar sind in Slowjansk inzwischen wieder 80 Prozent der Fabriken aus der Vorkriegszeit in Betrieb. "Es hat aber nicht eine einzige Großinvestition in den vergangenen Jahren in der Region gegeben", klagt derweil der Bürgermeister Wadim Ljach. "Geld liebt nun mal Ruhe." Für Investoren ist der Krieg, der von hier immerhin noch zwei Autostunden entfernt ist, noch immer laut genug.

Ljach gehört zum Kiew-kritischen Lager in Slowjansk. Er war selbst viele Jahre Mitglied der Partei der Regionen des nach Russland geflüchteten Präsidenten Wiktor Janukowitsch und wurde für die Nachfolgepartei Oppositionsblock 2015 zum Bürgermeister gewählt. Heute hängt ein Ölporträt des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko an der Wand seines Amtszimmers, gegenüber steht eine mannsgroße ukrainische Fahne. Heute wird die Loyalität zu Kiew in Slowjansk nicht mehr in Frage gestellt, versichert er. "Nur, weil wir kritisch gegenüber Kiew sind, heißt das nicht, dass wir für Russland sind."

Zwischen

den Stühlen

Trotzdem habe es die ukrainische Zentralregierung bisher verabsäumt, die Herzen und Köpfe der Bewohner zu erobern, kritisiert er. Ein Gesetz verhindert es bis dato, staatliche Gelder für den Wiederaufbau der privaten Wohnhäuser umzuleiten. Die Folge: In den Slowjansker Wohngebieten stehen bis heute noch rund 100 ausgebombte Häuser. Dass Kiew nicht alle Hebel in Bewegung setzt, um die ehemalige Hochburg der Separatisten wieder aufzubauen, habe für viel Misstrauen gesorgt. Auch die 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge, die bei den Behörden registriert sind, werden kaum vom Staat unterstützt. "Die Menschen hier fühlen sich so, als würden sie für die Ereignisse von 2014 bestraft werden", sagt Ljach.

Zurück im Jugendzentrum. Skripnik ist jemand, der trotzdem optimistisch in die Zukunft blickt. So sind es vor allem junge Menschen, die in den vergangenen drei Jahren viel aktiver geworden sind, sagt er. Er möchte in Slowjansk bleiben, trotz der tristen wirtschaftlichen Lage. "Wenn wir nichts verändern, wird es niemand tun", sagt er.