Zum Hauptinhalt springen

"Es geht um die Zukunft"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die Umsetzung des politischen Lebenstraums von Präsident Erdogan ist alles andere als ein Selbstläufer.


Istanbul. Eine freundliche ältere Frau mit buntem Kopftuch schlendert durch das wimmelnde Zentrum des Istanbuler Bezirks Gaziosmanpasa. Sie bleibt vor dem Wahlkampfstand des "Evet"-Lager stehen, geht dann hinüber zur "Hayir"-Kampagne. "Evet" heißt "Ja", "Hayir" "Nein". Mit ohrenbetäubender Musik übertönen sich die politischen Konkurrenten vor dem Referendum über die wichtigste Verfassungsänderung der Türkei seit 1923 am kommenden Sonntag gegenseitig. Ayse, die 50-Jährige mit dem Kopftuch, die ihren Nachnamen nicht nennen will, hört aufmerksam zu. Sie sei konservativ, sagt sie leise, so konservativ wie der Stadtteil, in dem die regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei den letzten Parlamentswahlen mehr als 57 Prozent bekam. "Natürlich" habe sie immer für die AKP und den früheren Minister- und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan gestimmt.

Ayse schaut auf die riesige Videowand bei der "Hayir"-Opposition, über die gerade zum populären türkischen "Izmir-Marsch" Schwarz-Weiß-Bilder des türkischen Befreiungskrieges vor hundert Jahren und des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk flimmern. "Natürlich" werde sie auch diesmal wieder Erdogan folgen und mit "Ja" stimmen, sagt Ayse. "Um frei zu sein, für Wohlstand und um keinen neuen Putschversuch zu erleben." Aber bevor sie weitergeht, fügt sie noch augenzwinkernd hinzu: "Ich wünsche mir ein gesegnetes Votum für die Zukunft der Türkei."

Dabei gebraucht sie einen Ausdruck, der während des Wahlkampfs Karriere als populäres Codewort machte, um in schweren Zeiten seine wahre Meinung auszudrücken: "hayirli" - "gesegnet". In dem Wort, das fromme Muslime gern zur Anrede verwenden, versteckt sich die Verneinung "hayir". Also hat die 50-jährige Hausfrau Ayse aus dem konservativen Gaziosmanpasa gerade zu verstehen gegeben, wie sie wirklich abstimmen wird. Glaubt man dem Augenschein, dann sprach aus ihr die Stimme des Volkes. Denn während sich vor der Bühne des "Hayir-Lagers" mehr als hundert Menschen versammeln und andächtig dem "Izmir-Marsch" zuhören, verlieren sich am Stand der "Evet"-Kampagne nur einige alte Mütterchen.

"Die Einführung der Diktatur"

Glaubt man der Mehrheit der Umfrageinstitute, dann ist es genau andersherum. Dann wird das "Ja" mit 55 Prozent der Stimmen am Sonntag einen klaren Sieg erringen. Aber eigentlich gilt keine Umfragefirma als wirklich unabhängig. So gibt es auch Erhebungen, die dem Nein einen 55-Prozent-Erdrutschsieg vorhersagen. Doch in einem sind sich alle einig: Bis zu 13 Prozent der Wähler sind noch immer unentschieden oder geben dies zumindest vor. Völlig unklar ist zudem, wie die in die Millionen gehenden Angehörigen und Freunde der rund 140.000 entlassenen Staatsdiener und der mehr als 45.000 als angebliche Putschisten Inhaftierten abstimmen werden.

"Das Rennen ist offen, aber es kann zu Überraschungen kommen, deshalb ist der Wahlkampf so wichtig", sagt Yilmaz Yildirim, 60, der Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) in Gaziosmanpasa, ein kleiner, liebenswürdiger Herr in seinem frisch renovierten Büro. Seine Partei führt als größte Gruppe das "Nein"-Lager an, in dem sich von Sozialdemokraten über kurdische Linke bis hin zu moderaten Islamisten ein breites Bündnis sammelt. "Wir sagen Nein zu den Verfassungsänderungen, weil wir keine Einmannherrschaft wollen", bringt Yilmaz Yildirim seine Kampagne auf den Punkt. Diesmal werde nicht über Parteien abgestimmt, diesmal könnten die Bürger ihrem Herzen folgen und auch ihrem Ärger über die Politik Luft machen. "Wir sehen, dass die "Ja"-Versammlungen sehr schlecht besucht sind. Sollte das "Nein" gewinnen, kann das Folgen für die nächsten Wahlen haben."

"Ja für die Einheit" steht auf den riesigen Plakatwänden mit dem Konterfei Erdogans. Schluss mit dem Terror, Sicherheit im Land lauten die Argumente dazu. Sicher ist: Das Verfassungsreferendum spaltet die Türken. Erdogan und die AKP wollen zusammen mit ihren Verbündeten von der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ein exekutives Präsidialsystem einführen, das dem Staatschef deutlich mehr Macht geben würde. Der Präsident könnte das Parlament auflösen, erhielte noch mehr Macht über die Justiz. Für den 63-jährigen Erdogan ist es die wohl wichtigste Abstimmung seines politischen Lebens. Spätestens seit er 2014 vom Volk mit 52 Prozent zum Staatschef gewählt wurde, strebt er als Vollendung seiner Karriere die Exekutivpräsidentschaft an. "Es wäre die Einführung der Diktatur" glaubt wiederum der CHP-Ortsvorsteher Yildirim.

Eine Frage der Ressourcen

Inzwischen ist der Wahlkampf für das Verfassungsreferendum in seine letzte Phase eingetreten. Mehr noch als bei Parlaments- und Präsidentenwahlen ist die Megametropole Istanbul zur Ausstellungsfläche der politischen Lager geworden - vor allem der "Ja"-Sager, deren gewaltige, alle bisherigen Dimensionen sprengenden Riesenplakate Brücken verhüllen, Hausfassaden abdecken und öffentliche Gebäude vereinnahmen. Auch die über vielen Straßen wehenden Wimpel rufen überwiegend dazu auf, mit "Ja" zu stimmen. Groß- und Kleinbusse kurven durch die Straßen und brüllen aus übersteuerten Lautsprechern: "Wählt "Ja" für die Zukunft der Türkei!". Nur selten ist einmal ein kleines Hayir-Plakat mit Sonne und einem lächelnden Mädchen zu sehen.

"Sobald wir unsere Plakate aufhängen, werden sie wieder abgerissen", sagt Yilmaz Yildirim, "das ist eindeutig organisiert." Während die Opposition auf eigene Geldmittel zurückgreifen muss, schöpft die AKP aus dem Vollen, kann staatliche Ressourcen wie Gebäude, Plakatflächen oder Busse für Fahrten zu Auftritten des Präsidenten nutzen und sogar Geldgeschenke verteilen. "Die AKP hat für unseren Stadtteil mit 500.000 Einwohnern rund eine Million Euro zur Verfügung, meine Partei für das ganze Land nur zwei Millionen", sagt der Lokalpolitiker. Auch in den klassischen Medien kommen vor allem Reformbefürworter zu Wort. Die Fernsehsender sind inzwischen fast gleichgeschaltet, Zeitungen und Zeitschriften zu rund 90 Prozent auf Regierungslinie gebracht. Politiker der linken, prokurdischen HDP wurden bisher erst einmal in eine Livesendung eingeladen. Die HDP-Spitze sitzt ebenso im Gefängnis wie tausende ihrer Mitglieder.

Von Tür zu Tür

"Wir Oppositionelle müssen deshalb kreativer sein und auf unkonventionelle Mittel zurückgreifen. Das haben wir bei Gezi gelernt", sagt Cem Tüzün, CHP-Politiker und Veteran der Gezi-Bewegung von 2013, der in Gaziosmanpasa an diesem Tag Wahlkampf macht. So konzentrieren sich die "Nein"-Sager auf Tür-zu-Tür-Gespräche, kleben "Nein"-Sticker auf Häuserwände und Pflaster, bilden den Schriftzug "Hayir" mit ihren Körpern nach und posten die Körperschrift im Internet. Eine entscheidende Rolle spielen die sozialen Medien. Am Donnerstagmorgen verabreden sich Tausende im Internet zu einer Aktion in U-Bahn-Stationen, an Fähranlegern und Busstationen der ganzen Stadt, verteilen Flugblätter und rufen dazu auf, für das "Nein" zu stimmen. Am Donnerstagnachmittag stehen dann fünfzig junge Jusstudenten der Istanbul-Universität vor der berühmten Neuen Moschee im Herzen des konservativen Stadtteils Eminönü, verteilen Flyer und sprechen Passanten an. "Viele wissen noch immer nicht, worum es eigentlich geht, denn in den Medien herrscht Informationsverschmutzung. Die Leute informieren sich nicht, sondern glauben alles, was man ihnen erzählt", sagt die 20-jährige Nilay Yilmaz. "Wir erklären ihnen die geplante Verfassungsreform."

Es ist zwar offensichtlich, dass die Studenten dem "Nein"-Lager zuneigen, aber sie nehmen ihr Neutralitätsgebot sehr ernst. "Wir achten strikt darauf, keine Propaganda für die eine oder andere Partei zu machen", sagt Yilmaz‘ 23-jähriger Kommilitone Arda Yamanlar, der davon erzählt, dass seine Eltern sich wegen seines Engagements Sorgen machten. "Aber ich sage ihnen wie den Leuten hier, dass die Abstimmung wichtig ist. Es geht um die Zukunft unserer Generation. Und unseres Landes."

Auch in Eminönü sammeln sich weit mehr Interessierte vor dem "Nein", als vor dem "Ja"-Stand. Dort stehen junge Frauen in schwarzen Umhängen, die erklären: "Wir vertrauen Tayyip Erdogan bis zum Ende. Er ist einmalig." Eigentlich aber bietet sich überall in Istanbul dasselbe Bild. Die "Nein"-Sager haben das Momentum auf ihrer Seite. Sie wirken nicht unbedingt besser organisiert, aber motivierter und aktiver. "In einem demokratischen Land sollte nicht ein solcher Druck auf die Opposition ausgeübt werden", sagt Nurgul Bastus, 56, eine pensionierte Lehrerin, die vor dem Stand der CHP im säkularen Bezirk Kadiköy Flyer verteil. "Es ist schön, dass wir endlich mal wieder Flagge zeigen können nach all der Repression im Ausnahmezustand."

Prominente "Nein"-Sager

Zeitungen berichten sogar, dass prominente Konservative wie der frühere Präsident Abdullah Gül ebenso wie der ehemalige Regierungsberater Etyen Mahcupyan und die Frau des MHP-Gründers Arpaslan Türkes mit "Nein" stimmen werden. Und in Kadiköy geschieht am Donnerstagabend etwas, das selten geworden ist in der Türkei. Ein 42-jähriger Mann, zum Zopf gebundene graue Haare, beginnt eine ernsthafte Diskussion mit den AKP-Granden des Bezirks. "Wieso wollen Sie die Einmannherrschaft?", fragt der Langhaarige. "Demokratie bedeutet, Kompromisse zu schließen und Koalitionen einzugehen. Wenn wir unseren Kindern das nicht beibringen, erziehen wir sie zu Untertanen, die nur brav gehorchen." Der lokale AKP-Chef Isah Mesih Sahin, studierter Jurist, antwortet: "Es waren Koalitionsregierungen, die unser Land bedroht haben. Kompromisse schaden unserem Land. Wir brauchen eine starke Führung. Und deshalb wird das "Ja" gewinnen." Er wirkt, als sei er sehr sicher.