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Knapper Sieg mit zweifelhafter Legitimität

Von Frank Nordhausen

Politik

Die Türkei stimmt für das Präsidialsystem. Doch die Opposition fordert eine Annulierung der Abstimmung.


Istanbul. Am Sonntagabend sind die Straßen Istanbuls wie leergefegt. Wo sonst gehupt wird und Reifen quietschen, wo laute Musik aus Läden dröhnt – da herrscht in den Stunden nach dem historischen Referendum über die Verfassungsreform der Türkei eine fast beängstigende Stille. Die 16-Millionenstadt Istanbul hält den Atem an - wie die gesamte Türkei. Aus praktisch allen Fenstern dringt das flackernde blaue Licht der Fernseher, Menschen sitzen vor den Geräten und verfolgen einen Wahlkrimi, wie ihn in der Türkei noch nicht gesehen hat. Die staatsnahen Sender haben nach Schließen der Wahllokale zunächst einen Kantersieg der "Ja"-Wähler von 60 Prozent angekündigt, dann holt das "Nein" dramatisch auf, bis sich die Balken der Hochrechnungen ab halb neun Uhr abends kaum mehr bewegen. Das Ja steht bei 51,3 Prozent, das Nein bei 48,7 Prozent. Da erklärt sich der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zum Sieger des Urnengangs, lange bevor die Hohe Wahlkommission das Resultat am frühen Morgen als vorläufiges amtliches Endergebnis feststellt.

Ja oder Nein, "Evet" oder "Hayir" – das war die Frage an über 55 Millionen Wahlberechtigte in der Türkei und im Ausland. Sie waren aufgerufen, über Verfassungsänderungen zu einem exekutiven Präsidialsystem zu entscheiden, das Erdogan noch mehr Machtbefugnisse einräumen würde, als er ohnehin schon besitzt. Es war die wohl bedeutendste Volksabstimmung im Land seit Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1923, denn sie bedeutet einen fundamentalen Systemwechsel – von der parlamentarischen Demokratie hin zu einem hybriden Herrschaftssystem nach dem Muster ex-sowjetischer oder nahöstlicher Autokratien. Die Opposition warnte eindringlich vor einer Ein-Mann-Herrschaft, hatte aber wenig Möglichkeiten gegen eine "Ja"-Kampagne, die mit beispiellosem Aufwand und dem Einsatz staatlicher Ressourcen einen erdrückenden Wahlkampf im geltenden Ausnahmezustand führte.

Handfeste Überraschung

Deshalb ist das vorläufige Ergebnis für das Nein-Lager zwar eine knappe Niederlage, aber zugleich eine handfeste Überraschung. Inzwischen haben sich Istanbul und die Hauptstadt Ankara, die beiden größten und wichtigsten Metropolen des Landes, erstmals nach fast 15-jährigen Vormachtstellung Erdogans gegen ihn ausgesprochen, mit jeweils rund 51 Prozent Nein-Stimmen – ein Ergebnis auch der sehr hohen Wahlbeteiligung von mehr als 85 Prozent. Mit der Ägäismetropole Izmir, wo das Nein fast 70 Prozent holte, haben die drei bedeutendsten Städte des Landes ebenso wie die liberalen westlichen Küstenregionen gegen die Verfassungsreform gestimmt.

Als die Prozentbalken im Fernsehen stillstehen, fixieren sie dieses Ergebnis. Sie zeigen, dass die Abstimmung in Zentralanatolien, am Schwarzen Meer und in den konservativen kurdisch dominierten Großstädten Sanliurfa und Gaziatep entschieden wurde, wo die islamisch-konservative Regierungspartei AKP traditionell ihre Hochburgen hat und das Ja-Lager Ergebnisse um die 70 Prozent holte. Das fromme Anatolien hat gegen den säkularen Westen und den kurdisch geprägten Südosten votiert – und gegen die türkische Republik, wie sie Mustafa Kemal Atatürk einst begründete, und die mit all ihren Schwächen bis zum Sonntag fortbestand. Mit dem erklärten Sieg Erdogans beginnt eine neue Ära, in der Demokratie nur noch eine Hülle für seine Machtfülle ist.

Unter den Erwartungen

Aber sind insgesamt 51,4% wirklich ein gutes Resultat für Erdogan, die AKP und ihren neuen Verbündeten, die rechtsextreme Oppositionspartei MHP? Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 kamen beide Parteien zusammen auf rund 65 Prozent der Stimmen. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 holte der "Boss", wie Erdogan von seinen Anhängern genannt wird, 52 Prozent. Man hätte also deutlich mehr Stimmen für das Ja erwarten können. Deshalb ist das Resultat des Verfassungsreferendums nach der Schlappe der AKP bei den Parlamentswahlen vom Juni 2015 ein weiteres Zeichen dafür, welche inneren Zweifel Erdogans eigene Basis inzwischen plagen.

Massive Zweifelan der Redlichkeit und Genauigkeit der Hochrechnungen beginnt die Opposition schon kurz nach der Verfestigung der Resultate zu äußern, in den sozialen Medien und auch im Fernsehen. "Die Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur sind absolut unlauter", sagt Erdal Aksünger, stellvertretender Vorsitzender des elektronischen Informations- und Kommunikationssystems der CHP.

Amt abgeschafft

Der deutsche Bundestagsabgeordnete der Grünen, Özcan Mutlu ist den ganzen Tag über in Istanbul als Wahlbeobachter unterwegs gewesen. Er habe den Wahlprozess als entspannt und korrekt erlebt, berichtet er. "Das knappe Rennen, das wir nun erleben, wurde von allen seriösen Beobachtern und Umfrageinstituten vorausgesagt. Da sollte man abwarten, bis man genau weiß, wie es ausgegangen ist. Aber die AKP behauptet jetzt ein Ergebnis, das auf zweifelhaften Zahlen beruht."

Trotzdem tritt gegen halb zehn Uhr abends der AKP-Ministerpräsident Binali Yildirim auf den Balkon des Parteihauptquartiers in Ankara und erklärt einer Menge fahnenschwenkender Anhänger, dass die Wahl entschieden sei. Der Mann, der drei Monate lang Wahlkampf für die Abschaffung seines eigenen Amtes gemacht hat, spricht von Einigkeit und Versöhnung. "Diejenigen, die mit Ja und diejenigen, die mit Nein gestimmt haben, sind ein und dasselbe, sie sind so wertvoll wie die anderen. Ich drücke hiermit meine Wertschätzung aus für alle Bürger die mit ja oder Nein gestimmt haben. Ich grüße sie alle mit Liebe und Sympathie", sagt er. "Es gibt keinen Verlierer in diesem Referendum. Die Türkei ist der Gewinner, die geschätzte Nation ist der Gewinner." Seine Regierung werde nun sofort mit den notwendigen Schritten beginnen, "um das alte mit dem neuen System zu harmonisieren".

Historische Entscheidung

Wenig später lässt sich Erdogan selbst von seinen Anhängern in Istanbul feiern. Die Türkei habe mit dem Referendum eine historische Entscheidung getroffen und einen Schlussstrich unter eine 200-jährige Debatte um das richtige Regierungssystem gezogen, ruft er einer vielhundertköpfigen, jubelnden Menge zu. Es handle sich um die wichtigste Regierungsreform der türkischen Geschichte.

Dann kündigt er die Wiedereinführung der Todesstrafe an, die er während des Wahlkampfs immer wieder gefordert hat. "Ich werde das Thema umgehend mit dem Ministerpräsidenten und Herrn Bahceli diskutieren." Bahceli, der Chef der rechtsextremen Oppositionspartei MHP, der mit seiner parlamentarischen Unterstützung das Referendum erst ermöglichte und dem Ja-Lager wohl erst zur entscheidenden knappen Mehrheit verhalf, findet sich zwar im Zentrum der Macht wieder, muss aber damit rechnen, dass seine Partei sich jetzt spaltet. Falls die Todesstrafe in der Nationalversammlung keine Zweidrittelmehrheit finde, werde er wieder das Volk befragen, erklärt unterdessen der Staatschef: "Wir werden ein weiteres Referendum darüber abhalten."

Feier wirkt inszeniert

In Istanbul fahren jetzt die ersten Erdogan-Fans laut hupend und mit türkischen und "Evet"-Fahnen behängten Autos durchs Zentrum nahe dem Taksim-Platz. Aber es sind nur wenige, viel weniger als bei früheren Siegen ihres Idols, so als ob sie sich ihres Triumphes selbst nicht sicher seien. Ein kleiner Konvoi von rund 15 Fahrzeugen, der zuvor am Platz geparkt hatte. Eine Inszenierung, die wie so vieles an diesem historischen Abend vorgeplant und seltsam unecht wirkt – anders als die Begeisterung, mit der die Nein-Kampagne in den vergangenen Tagen agierte.

Die Zweifel der Opposition wachsen angesichts des Tempos mit dem Erdogan und die Regierung nun ans Werk gehen wollen. "Es gibt eigentlich noch kein feststehendes Ergebnis", sagt der Abgeordnete der linken prokurdischen Oppositionspartei HDP, Mithat Sancar, gegenüber dieser Zeitung kurz vor Mitternacht. Dafür, dass seine Partei praktisch keinen normalen Wahlkampf führen konnte, da ihre Führungsspitze, zahlreiche Politiker und Mitglieder inhaftiert sind, hat sie sich erstaunlich gut geschlagen und beispielsweise in der südostanatolischen Kurdenhochburg Diyarbakir 67 Prozent der Stimmen gewonnen.

Hinweise auf Diskrepanzen

"Es gibt sehr viele Einwände gegen den Wahlverlauf", sagt Sancar "Wir werden das Ergebnis offiziell anfechten und dabei Wahlmanipulationen in den Vordergrund stellen." Vor der Wahl hatten Experten gewarnt, dass es möglich sei, ein bis drei Prozent der Wählerstimmen zu manipulieren – genau die Marge, mit der das "Ja"-Lager offiziell gewonnen hat. "Bevor über unsere Einwände gesprochen wurde, finden wir es nicht korrekt, dass bereits Ergebnisse verkündet werden, als stünden diese fest." Die HDP-Wahlbeobachter hätten zahlreiche Hinweise auf erhebliche Diskrepanzen zwischen den ausgezählten und den nach Ankara übermittelten Daten festgestellt.

Entrüstung ruft auch eine Entscheidung der Hohen Wahlkommission (YSK) vom Sonntagnachmittag hervor, die Stimmzettel gelten ließ, denen der erforderliche Stempel fehlte. Noch während der laufenden Abstimmung erklärte die Kommission, dass auch ungekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge als gültig gezählt würden, solange es keine Beweise dafür gäbe, dass die Umschläge von außen in die Wahllokale geschmuggelt wurden, obwohl dieselbe Kommission genau dies während des Wahlprozesses der Auslandstürken noch untersagt. Anfangs hieß es, dass von der Entscheidung nur rund 500 Stimmzettel betroffen seien, noch in der Nacht ist plötzlich von möglicherweise einer Million Wahlzettel die Rede. "Wegen dieser Probleme wollten wir unbedingt auf die Ergebnisse der OSZE-Beobachter warten, aber die Regierung schafft vollendete Tatsachen", sagt der HDP-Abgeordnete Sancar. "Die Legitimität dieser Wahl ist höchst fragwürdig. Schon der Wahlkampf war extrem unfair, aber der Wahlausgang ist für uns nicht mehr nachvollziehbar."

CHP fordert Neuauszählung

Auch die größte Oppositionspartei CHP zweifelt das Ergebnis an. Ein Vertreter der Partei hat am Montag die Annulierung des Referendums gefordert. "Es gibt nur eine Entscheidung, um im Rahmen des Gesetzes die Situation zu entspannen - die Hohe Wahlkommission sollte die Abstimmung
annullieren", sagte der stellvertretende Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan.

Am Sonntag verlangte die CHP eine Neuauszählung und wollte die unzulässigen Stimmzettel nicht gelten lassen. "Dieses Referendum hat eine Wahrheit ans Licht gebracht: Mindestens 50 Prozent dieses Volkes hat dazu ‚Nein‘ gesagt", sagt der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen CHP, am Sonntagabend vor Journalisten in Ankara.

Später äußert Stefan Schennach von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), der mit einem Team das Referendum beobachtet hat, dass die Abstimmung "weder fair noch frei" gewesen sei. "Nach unserem Besuch in Diyarbakir und Mardin sind wir zutiefst besorgt. Die Polizei verhinderte zweimal unsere Beobachtung", erklärt Schennach per Twitter.

Im Laufe des Tages gab es tatsächlich eine Fülle von Berichten über Unregelmäßigkeiten. So wurden Wahlbeobachter der HDP in der Kurdenhochburg Diyarbakir in Südostanatolien von der Polizei an ihrer Arbeit gehindert und aus fadenscheinigen Gründen festgenommen. Bewaffnete Polizisten hielten sich in Wahllokalen auf, obwohl dies gesetzlich verboten ist. Das Internetvideo eines Wahllokalhelfers aus dem südöstlichen Sanliurfa, der munter "Ja" auf Stimmzettel stempelte, führte zu einem Aufschrei der Empörung in den sozialen Medien.

Ergebnis wirkt sich auf Wirtschaft aus

Die zweifelhafte Legitimität des knappen Sieges könnte sich zum Problem für Erdogan und die AKP entwickeln, erklärte Gareth Jenkins, Istanbuler Türkei-Experte vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP), dieser Zeitung. "Falls die Opposition Beweise für Wahlfälschungen auf den Tisch legt, wird Erdogans Sieg möglicherweise international nicht anerkannt werden. Das wäre sehr schlecht für die Wirtschaft, die ohnehin schon ins Bodenlose fällt", so Jenkins. "Die Märkte machen sich zwar keine Sorgen wegen Autokratien, aber sehr wohl wegen der Stabilität eines Landes. Jetzt werden wir noch mehr Repression und mehr Instabilität erleben - ein Alptraum für die türkische Wirtschaft, die auf ausländisches Kapital angewiesen ist."

Am Sonntagabend ist der Taksim-Platz im Zentrum der Millionenstadt wie leergefegt. Viele Menschen gehen schweigend, in sich gekehrt oder starren auf ihre Smartphones. Der Ort besitzt hohe symbolische Bedeutung für die säkulare Republik Atatürks und die türkische Linke. Hier steht das Denkmal der Republik, der zentrale Ort Istanbuls für Kranzniederlegeungen an staatlichen Feiertagen.Hier wurde gegen die Militärdiktatur und für die Freiheit demonstriert, hier töteten 1977 Unbekannte bei einem Massaker 34 Teilnehmer einer gewerkschaftlichen Maidemonstration und verwandelten den Platz in ein Schlachtfeld. 2013 kulminierten am Taksim die Gezi-Proteste, feierten Tausende eine andere, liberale, weltoffene türkische Republik. Als sich die TV-Sender auf das Ergebnis des Referendums festlegen und Ministerpräsident Yildirim gegen halb zehn Uhr abends seine Siegesrede beginnt,da intoniert am Taksim-Platz der Muezzin das Nachtgebet. Es wirkt wie das Weihelied für eine Zeitenwende.

Wie das Referendum in anderen Staaten ausging:

Belgien: 75,0 Prozent "Ja", 25,0 Prozent "Nein"

Österreich: 73,2 Prozent "Ja", 26,7 Prozent "Nein"

Niederlande: 71,0 Prozent "Ja", 29,0 Prozent "Nein"

Frankreich: 64,85 Prozent "Ja", 35,15 Prozent "Nein"

Das "Nein" überwog in (Auswahl):

Tschechien: 87,5 Prozent "Nein", 12,5 Prozent "Ja"

Vereinigte Arabische Emirate: 86,7 Prozent "Nein", 13,3 Prozent "Ja"

Bahrain: 86,4 Prozent "Nein", 13,6 Prozent "Ja"

USA: 83,8 Prozent "Nein", 16,2 Prozent "Ja"

Großbritannien: 79,8 Prozent "Nein", 20,3 Prozent "Ja"

Bulgarien: 71,35 Prozent "Nein", 28,65 Prozent "Ja"

Aserbaidschan: 61,7 Prozent "Nein", 38,3 Prozent "Ja"

Australien: 58,2 Prozent "Nein", 41,8 Prozent "Ja"