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Neue Rolle dringend gesucht

Von Martyna Czarnowska und Ronald Schönhuber

Politik

Das Verhältnis der Türkei zur EU ist schwer belastet - Ankara bemüht sich nun um neue Bündnispartner.


Ankara/Brüssel/Wien. Der prominenteste Anrufer hatte sich am meisten Zeit gelassen. Erst am Montag griff US-Präsident Donald Trump zum Telefon, um seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan zu dessen Sieg beim Verfassungsreferendum zu gratulieren. Deutlich schneller war da schon Ilham Alijew. Aserbaidschans Präsident deponierte seine Glückwünsche bereits unmittelbar nach der Verkündung des vorläufigen Endergebnisses, noch in der Wahlnacht. Ebenfalls noch am Sonntagabend gratulierten der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani, und Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. Keinen Anruf bekam der türkische Staatspräsident allerdings aus Brüssel. "Es wird kein Telefonat zwischen Erdogan und der EU-Kommission geben", sagte ein hochrangiger westlicher Diplomat. "Schon gar keines, um ihm zu gratulieren."

Dass man in Europa auf Erdogan nicht gut zu sprechen ist, mag nicht unbedingt verwundern. Zu sehr wurde die Atmosphäre in den vergangenen Wochen von Nazi-Vergleichen, der Affäre um den Journalisten Deniz Yücel und Drohungen mit der Aufkündigung des Flüchtlingspakts vergiftet. Doch die jüngste Telefondiplomatie verrät nicht nur, dass das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa so schlecht ist wie wohl noch nie. Sie zeigt auch den Beginn einer neuen geopolitischen Konstellation, in der sich Ankara nicht mehr an westlichen Vorbildern orientiert, sondern sich dem Nahen Osten und Vorderasien zuwendet, um dort eine Führungsrolle einzunehmen.

"Null Probleme mit Nachbarn"

Das Konzept der Türkei als starke Regionalmacht hatte Erdogan bereits vor einiger Jahren mit seinem damaligen Außenminister Ahmet Davutoglu entwickelt, als absehbar wurde, dass sich der EU-Beitrittsprozess noch über viele Jahre hinziehen könnte und die Türken am Ende dennoch draußen vor der Tür bleiben müssten. Doch das "Null Probleme mit den Nachbarn"-Credo, das Erdogan und Davutoglu zur gleichen Zeit ausgegeben hatten, entwickelte sich schon bald zur Chimäre. Mit Israel war es etwa 2010 zum Bruch gekommen, nachdem die israelische Marine die "Mavi Marmara" gestürmt und dabei zehn türkische Staatsbürger getötet hatte. Das Schiff, das heute noch in Istanbul vor Anker liegt, hätte vor sechs Jahren als Teil einer "Solidaritätsflotte" die israelische Blockade des Gaza-Streifens durchbrechen sollen.

Ähnlich angespannt war das Verhältnis zu Ägypten, nachdem dort 2013 der von Ankara unterstützte islamische Präsident Mohammed Mursi vom Militär gestürzt wurde. Und Russland hatte sogar Sanktionen gegen die Türkei verhängt, nachdem ein türkischer Kampfjet ein russisches Flugzeug an der Grenze zu Syrien abgeschossen hatte. Als sich das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei während der Flüchtlingskrise weiter verschlechterte, ging Erdogan, der als geschickter Taktiker gilt, allerdings auf Versöhnungskurs mit den vorher angefeindeten Nachbarn. Am 26. Juni gaben die Türkei und Israel schließlich bekannt, ihre Beziehungen nach sechs Jahren Eiszeit wieder normalisieren zu wollen. Nur einen Tag später entschuldigte sich Erdogan höchstpersönlich bei Präsident Wladimir Putin für den Abschuss des russischen Kampfjets und sprach der Familie des getöteten Piloten sein "tiefstes Beileid" aus.

Kooperation mit Hürden

Doch selbst wenn Erdogan mit dieser Befriedungsstrategie sich geopolitisch wieder deutlich mehr Spielraum verschafft hat, bleibt die Regionalmacht-Idee mit vielen Fragezeichen verbunden. Denn laut Türkei-Experten wie Hans-Georg Fleck von der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung gibt es hinter der plakativen Überschrift, nur sehr vage inhaltliche Antworten auf die Frage, wie sich das Konzept in der politischen Praxis konkret niederschlagen soll. "Die islamistischen Kreise, die der Regierungspartei AKP sehr nahestehen, rufen zwar ständig danach, dass man sich von den westlich-kolonialistischen Kräften emanzipieren muss, um den anderen Weg zu gehen, der in der Kooperation mit der muslimischen Welt liegt", sagt Fleck. "Aber gleichzeitig weiß man, dass es gar nicht so leicht ist mit den muslimischen arabischen Staaten zu kooperieren. Und die anderen muslimischen Länder sind geografisch weit weg. Daher hat noch niemand eine Antwort darauf gefunden, inwieweit das eine Alternative für die enge wirtschaftliche Kooperation mit Europa sein soll." Auch die Idee eines Andockens an die Shanghai Cooperation Organisation hält Fleck für kaum umsetzbar. Denn wenn die Türkei sich dieser von China und Russland etablierten Plattform anschließt, ließe sich das wohl kaum mit der Mitgliedschaft in der Nato vereinbaren.

Ringen um EU-Gespräche

Eine andere geplante Mitgliedschaft rückt hingegen außer Reichweite. Seit Jahrzehnten müht sich die Türkei um eine enge Anbindung an die EU; seit 2005 laufen die Beitrittsverhandlungen zwischen Brüssel und Ankara. Sollten diese nun abgebrochen werden? Diese Frage sorgt nicht erst seit dem jüngsten Referendum in der Türkei für heftige Debatten in der EU. Sie wurde schon nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016, auf den in der Türkei Verhaftungs- und Entlassungswellen folgten, immer häufiger gestellt.

Im November preschte das EU-Parlament vor: In einer Resolution forderte eine Mehrheit der Abgeordneten eine Aussetzung der Beitrittsgespräche. Keine neuen Verhandlungskapitel, keine neuen Initiativen im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess - so lautete die Forderung. Diese müssen freilich weder EU-Kommission noch Mitgliedstaaten aufgreifen: Rechtlich bindend ist der Antrag der Volksvertretung nicht.

Die EU-Kommission selbst könnte den Vorschlag zum Einfrieren der Gespräche ebenfalls vorlegen. Bisher hat sie sich damit zurückgehalten, im Wissen, dass sich wohl kaum eine Mehrheit der Mitgliedstaaten finden würde, die das unterstützen.

Tatsächlich sind sich die Länder keineswegs einig darin, wie sie mit Ankara umgehen sollen. Aus Österreich etwa, wo die Beitrittsperspektive der Türkei schon seit Jahren auf große Skepsis stößt, kommt schon seit Monaten der Ruf nach einem Abbruch der Verhandlungen, sowohl von Bundeskanzler Christian Kern als auch von Außenminister Sebastian Kurz. Dem könnten sich einige Regierungen zwar anschließen: So erklärte zuletzt der italienische Außenminister Angelino Alfano, dass ein EU-Beitritt der Kandidatin "derzeit vom Tisch" sei. Jedoch wird in anderen Hauptstädten - inklusive Berlin - mehr Vorsicht an den Tag gelegt.

Wirtschaftliche Druckmittel

Das hängt nicht nur mit Überlegungen zusammen, dass "ein Kanal für den Dialog" offen gehalten werden soll. Immerhin war es auch der Druck der EU, der türkische Politiker zu Reformen angespornt sowie Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft bei ihren Bemühungen zur Demokratisierung des Landes geholfen hat.

Die Dialogbereitschaft hat auch einen weiteren Grund. An das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hat die EU im Vorjahr weitgehende Zugeständnisse geknüpft. Dazu gehörten Geld für Flüchtlingshilfe, eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses und der Visa-Liberalisierung. Würden die Europäer diese Versprechen zurückziehen, könnte sich Ankara ebenfalls ermuntert sehen, die Verpflichtungen zu Grenzschutz und Rücknahme von Asylwerbern nicht zu erfüllen - womit es immer wieder droht. Kritiker des Deals, dessen Zustandekommen vor allem Deutschland ein Anliegen war, hatten daher von Anfang an davor gewarnt, dass sich die EU erpressbar mache.

Dennoch hätten die Europäer durchaus Möglichkeiten, weiterhin Druck auf Ankara auszuüben. Einerseits gibt es die Bedingungen, die an die Befreiung von der Visumspflicht für türkische Bürger gebunden sind. Andererseits sind ökonomische Argumente vorhanden: Die Union ist der wichtigste Handelspartner der Türkei und führt mit dieser außerdem Gespräche über eine Modernisierung der gemeinsamen Zollunion. Ob es sich Ankara leisten will, das völlig außer Acht zu lassen, ist noch offen.