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Das gestohlene Referendum

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die türkische Opposition wittert massive Manipulationen zugunsten von Erdogans Verfassungsreform und fordert eine teilweise Neuauszählung der Stimmen.


Istanbul. Nach dem mit 51,4 Prozent hauchdünnen Sieg des "Ja"-Lagers beim Verfassungsreferendum am Ostersonntag steht die türkische Regierung vor einer Legitimitätskrise, da Hinweise auf möglichen systematischen Wahlbetrug zunehmen. In Istanbul und anderen Städten der Westtürkei gingen am Montagabend tausende Menschen aus Protest gegen mutmaßliche Manipulationen auf die Straße. Die Opposition spricht von massiven Unregelmäßigkeiten, fordert Nachzählungen und sogar die Annullierung der Wahl. Dagegen wiesen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP die Vorwürfe zurück. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie den Staatsapparat schnell auf das neue Präsidialsystem umstellen werden, das Erdogan erheblichen Machtzuwachs bringt.

Vor allem im kurdisch geprägten Südosten des Landes werden nach dem historischen Referendum Zweifel an der Fairness des Urnengangs laut. Sicher ist, dass noch nie bei einer demokratischen Abstimmung in der Türkei dermaßen viele Unregelmäßigkeiten publik wurden. "Die Legitimität der gesamten Wahl steht in Frage", sagt der Istanbuler Türkei-Experte Gareth Jenkins vom schwedischen Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP) der "Wiener Zeitung"; "Erdogan muss die Vorwürfe schnellstmöglich ausräumen, sonst verspielt er international den Kredit der Türkei." Damit stünden Milliardeninvestitionen ausländischer Geldgeber in Frage. Die EU-Kommission forderte inzwischen eine genaue Überprüfung der Vorwürfe.

Die Kritik konzentriert sich auf die Entscheidung der Wahlkommission, kurz vor Schließung der Wahllokale die Abstimmungsregeln zu ändern. Das Gremium hatte plötzlich auch Stimmzettel und Umschläge ohne offiziellen Amtsstempel für gültig erklärt. Doch laut dem türkischen Wahlgesetz dürfen nur von der Kommission gestempelte Unterlagen an Wähler ausgegeben werden. So soll sichergestellt werden, dass niemand Wahldokumente von außen in die Abstimmung einschleust.

"Diese Entscheidung wurde in dem Moment getroffen, als sich abzeichnete, dass die Nein-Stimmen vor den Ja-Stimmen liegen", schäumte der Vizevorsitzende der sozialdemokratischen CHP, Bülent Tezcan. Die größte Oppositionspartei geht von rund 2,5 Millionen illegalen Stimmzetteln aus, für mindestens 19 Wahllokale habe seine Partei Beweise. Damit stünde der Wahlsieg des Ja-Lagers in Frage, denn der Vorsprung vor dem "Nein" betrug laut dem offiziellen Ergebnis lediglich 1,3 Millionen Stimmen. Die Ergebnisse der gesamten Abstimmung seien aufgrund der nichtgestempelten Stimmzettel wertlos, sagte Tezcan. "Wir werden den Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen". CHP-Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu erklärte am Dienstag vor seiner Parlamentsfraktion, die Partei erkenne das Referendum nicht an und fordere eine Annullierung.

Dagegen wies der Leiter der Wahlkommission, Sadi Güven, die Vorwürfe der Opposition bereits am Montag zurück. "Die Stimmzettel sind nicht gefälscht", sagte er laut Medienberichten. Da versehentlich nicht-gestempelte Wahlzettel ausgegeben worden seien, habe man die entsprechenden Wähler nicht bestrafen und ihre Stimmen für ungültig erklären wollen. Weitere Details blieb Güven schuldig.

Die Opposition weist darauf hin, dass die Wahlkommission in früheren Fällen unter demselben Vorsitzenden genau entgegengesetzt entschieden habe. So musste bei der Kommunalwahl im März 2014 der Urnengang eines Landkreises in der Provinz Bitlis komplett wiederholt werden, nachdem die AKP einen nicht-gestempelten Umschlag reklamiert hatte. Damals hatte der AKP-Kandidat verloren. In einem anderen Fall verbot die Wahlkommission die Zählung ungestempelter Wahlzettel bei der Abstimmung von Auslandstürken.

Laut der türkischen Internet-Nachrichtenseite OdaTV erklärte der Chef des Akam-Umfrageinstituts, Kemal Özkiraz, dass sämtliche nichtgestempelten Stimmzettel gemäß Wahlbeobachtern auf "Ja" lauteten. "Das kann kein Zufall sein. Die Wahlkommission muss nachweisen, wie viele ungestempelte Zettel als gültig akzeptiert wurden." Falls es sich wirklich um bis zu 2,5 Millionen ungestempelte Wahldokumente handele, würde dies rund sechs Prozent der Stimmen entsprechen.

Der Türkei-Experte Erik Meyersson von der Stockholm-Universität wies in seinem Weblog auf die verdächtige Tatsache hin, dass in zahlreichen Wahlkreisen des kurdischen Südostens, in denen die AKP in der Vergangenheit praktisch keine Stimmen gewonnen habe, plötzlich das Ja-Lager gesiegt habe. Die AKP könnte dort bis zu 450.000 Stimmen gegenüber der Parlamentswahl im November 2015 gewonnen haben, die zuvor an die linke prokurdische HDP gegangen seien. Eine hohe Fluktuation in Gebieten mit starkem Wechselwähleranteil sei nichts Ungewöhnliches, sehr wohl aber dort, wo politische Prioritäten festgefügt seien, schreibt Meyersson. "Tatsächlich fand der massivste Schwenk zur AKP dort statt, wo sie sonst am wenigsten Stimmen hatte."

"Demokratischste Wahl im gesamten Westen"

Andrej Hunko, Abgeordneter der deutschen Linken, der als einer von 23 Wahlbeobachtern des Europarats in der Türkei war, hat Wahllokale im besagten Gebiet besucht. "Wir haben selbst beobachten können, wie in einem Wahllokal in der südostanatolischen Stadt Diyarbakir Stimmzettel auf der Rückseite rechtswidrig abgestempelt wurden, während die Wahl lief." Hunko berichtet auch, dass Polizisten seine Beobachtergruppe am Betreten von Wahllokalen hinderten. "Das ist illegal. Etwas Ähnliches habe ich bei meinen 15 Wahlbeobachtungsmissionen etwa in Kasachstan, Kirgistan oder der Ukraine noch nie erlebt." Das Referendum sei weder frei noch fair verlaufen. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatte moniert, das Referendum habe internationale Wahlstandards nicht erfüllt.

Erdogan ließ die Kritik kalt. "Dieses Land hat die demokratischsten Wahlen durchgeführt, wie sie kein einziges Land im Westen je erlebt hat", rief er seinen Anhängern am Montagabend zu und erneuerte seine Ankündigung, nun auch die Todesstrafe wieder einführen zu wollen.