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"Das war kein Fußballspiel"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Oppositionelle wie Sezgin Tanrikulu wollen gegen das "illegale Ergebnis" des Referendums in der Türkei vorgehen.


"Wiener Zeitung":Ihr Parteivorsitzender Kemal Kilicdaroglu hat bei der Hohen Wahlkommission eine Annullierung des Verfassungsreferendums beantragt, da es Hinweise auf Wahlbetrug gebe. Warum?SezginTanrikulu: Die wichtigste Grundregel heißt: Man darf die Regeln nicht während des Spiels ändern; der Schiedsrichter muss neutral sein. Aber die Hohe Wahlkommission hat die Regeln nach dem Start geändert, und ihre Entscheidung hat das Gesetz eindeutig verletzt. Die Rechtslage ist eindeutig: Zuvor nicht authentifizierte Stimmzettel sind nicht gültig. Deshalb war die Entscheidung ungesetzlich und hat das Referendum vollkommen delegitimiert. Sie hat erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesamtresultats geweckt. Wir erkennen dieses nicht an.

Doch hat die Wahlkommission die zahlreichen Einsprüche nun abgewiesen. Auch Sie hatten an diese Institution appelliert, die zuvor die umstrittene Entscheidung selbst getroffen hatte. War das nicht aussichtslos?

Wir müssen jede rechtliche Möglichkeit ausschöpfen, um gegen das illegale Ergebnis vorzugehen, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es hat auch schon Überlegungen zu einem Auszug unserer Partei aus dem Parlament gegeben.

Viele Hinweise zu Unregelmäßigkeiten kommen aus den kurdisch geprägten Gebieten Südostanatoliens. Was wissen Sie darüber?

Wir hatten bereits sehr viele Informationen aus erster Hand, dass während der Wahlkampagne und besonders kurz vor der Abstimmung Ortsvorsteher, Dorfschützer, Beamte und Staatsangestellte in der Region enorm unter Druck gesetzt wurden, die richtigen Resultate im Sinne der Regierung zu produzieren. Es gab Drohungen. Besonders in den ländlichen Gebieten war der Druck immens. Vom Wahltag haben wir Berichte, dass Leute an Stelle anderer gewählt haben, dass Menschen an einigen Orten gezwungen wurden, offen zu wählen und es sogar zu kollektiven Stimmabgaben kam. Aber trotz des gewaltigen Drucks haben die Kurden mehrheitlich Nein gesagt.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte sich ein starkes Mandat für sein Präsidialsystem gewünscht. Kann davon noch die Rede sein?

Das Ergebnis von 51,4 zu 48,6 Prozent ist für ihn ein Desaster. Er hat fast alle wichtigen Großstädte und praktisch den gesamten Westen und Südosten des Landes verloren. Das hat er mit Sicherheit nicht erwartet, als er den Referendumsprozess startete. Trotz der Manipulationen, des massiven Einsatzes von Gewalt und staatlicher Mittel für die Annahme dieses Gesetzestextes, der nicht nur eine Änderung der Verfassung, sondern ein Systemwechsel ist, steht am Ende ein Resultat, das all dies zu Unrecht macht.

Was folgt daraus für die Türkei?

Für die Regierungspartei AKP beschwört das eine höchst problematische Zukunft herauf, denn ein Verfassungstext begründet den Gesellschaftsvertrag und benötigt deshalb eine weit höhere Zustimmung als nur 51 Prozent. Hätte das Nein mit 51 Prozent gewonnen, könnten wir sicher sein, dass der Präsident die Nein-Wähler und ihre politischen Parteien für alles verantwortlich gemacht hätte, was falsch läuft im Land. Aber jetzt hat das Ja gewonnen, und die Türkei befindet sich tatsächlich in einem schrecklichen Zustand. Die Wirtschaft ist in der Krise, die Gesellschaft ist in zwei Lager gespalten, die Beziehungen zu den Nachbarstaaten, besonders zur EU, sind auf dem Tiefpunkt.

Wie sollten die Europäer reagieren?

Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ist eine legitime internationale Organisation. Wie die Türkei gehören ihr auch die EU-Länder als Mitglieder an. Eine der grundlegenden Aufgaben der OSZE ist es zu beobachten, ob Wahlen in den Mitgliedstaaten in einer sicheren, transparenten, demokratischen Weise ablaufen. Sie hat festgestellt, dass der Wahlkampf nicht fair und frei verlief und dass die Entscheidung der Wahlkommission, ungestempelte Stimmzettel anzuerkennen, einen Schatten auf das Ergebnis wirft. Doch die AKP-Regierung hat die OSZE, deren frühere Berichte über die Türkei sie immer sehr lobte, nun massiv kritisiert. Diese Kritik sollten die europäischen Staaten im Kopf haben, wenn sie über Maßnahmen nachdenken.

Der Präsident hat das Ergebnis des Referendums mit einem Fußballspiel verglichen - ob 1:0 oder 5:0, gewonnen sei gewonnen. Die Opposition solle die neue Realität anerkennen.

Es handelt sich bei dem Referendum ganz offensichtlich nicht um ein Fußballspiel, sondern um eine grundlegende Verfassungsänderung, mit der ein mehr als hundert Jahre altes parlamentarisches System abgeschafft wird. Da sollte man so sorgfältig wie möglich vorgehen. Die Metapher ist so unpassend und falsch wie von Siegern und Besiegten zu sprechen. Das zeigt eine ignorante Mentalität, die der Bedeutung der Sache nicht angemessen ist.

Was bedeutet das Wahlergebnis für Ihre Partei?

Es gibt uns eine sehr gute Grundlage für die Wahlkämpfe im Jahr 2019 auf lokaler und nationaler Ebene. Menschen von allen Seiten des politischen Spektrums - Nationalisten, Linke, Kurden - haben ein klares Bekenntnis abgelegt, dass sie eine Einmann-Herrschaft in der Türkei ablehnen. Sie haben das trotz einer Atmosphäre der Angst und Unterdrückung getan. Besonders bedeutsam ist die Tatsache, dass Erdogan die Mehrheit in seinem politischen Geburtsort Istanbul einbüßte. Sie zeigt uns, was bei den nächsten Wahlen geschehen wird. Unser Kampf um die Demokratie geht weiter.

Zur Person

Sezgin
Tanrikulu

ist ein kurdischer Rechtsanwalt, Menschenrechtler und Politiker. Als Abgeordneter im Parlament in Ankara vertritt er die Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei).