Zum Hauptinhalt springen

Nationalistischer Vorschlaghammer hängt drohend über Frankreich

Von Michael Schmölzer

Politik

Das Establishment hat scheinbar ausgedient, die extreme Rechte um Le Pen will die Gunst der Stunde nutzen und die alte Ordnung demontieren. Der Linkskandidat Mélenchon hat sich ebenfalls nicht weniger als eine Revolution vorgenommen.


<p>

Wien. Es ist eine Schicksalswahl, wenn die Franzosen am Sonntag zu den Urnen schreiten. Ein Sieg der rechtsextremen Front-National-Chefin Marine Le Pen in der entscheidenden Runde am 7. Mai wird nicht ausgeschlossen, er hängt wie ein Damoklesschwert über Frankreich und letztlich ganz Europa. Nach der desaströsen Brexit-Abstimmung im Juni und dem Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen im November wäre es die dritte bittere Niederlage für alle, die einer offene Gesellschafts- und Weltordnung wollen. Paukenschläge, mit denen die "Vergessenen", die "Abgehängten" und Modernisierungsverlierer die etablierte Ordnung über den Haufen werfen wollen. Ein Wahlsieg Le Pens wäre vor allem ein schwerer Schlag für die europäische Integration, manche sehen in ihm einen Todesstoß.<p>Die allerletzten Umfragen vor der Wahl am Sonntag sehen einen in der Favoritenrolle gestärkten Emmanuel Macron - dem parteiunabhängigen Senkrechtstarter fliegen scheinbar nach wie vor die Herzen zu. Doch dieser Befund beseitigt die Unsicherheit nicht, haben Umfragen zuletzt beinahe schon systematisch versagt.

<p>Pessimismus hat Konjunktur, wer Optimist sein will, spricht von der spannendesten Wahl seit Langem. Ein Großteil der Franzosen war bis zur letzten Minute unentschlossen und es ist unklar, wie sich der Terroranschlag auf der Pariser Champs Élysée in der Nacht auf Freitag auswirkt. Dass Macron seine letzten Wahlkampfveranstaltungen abgesagt hat, verstärkt den Eindruck des nationalen Notstandes. Le Pen trommelt nach Leibeskräften, die Regierung habe alles getan, damit Frankreich den "Krieg" gegen den Terrorismus verliere. Nach den zahlreichen islamistisch motivierten Anschlägen der Vergangenheit gilt in Frankreich immer noch der Ausnahmezustand.<p>

Der erste Wahlgang steht somit im Zeichen des Terrors, 50.000 Polizisten und Soldaten sollen die Wahllokale überall im Land schützen, denn sie sind potenzielle Ziele von großer symbolischer Bedeutung.<p>

Le Pen will den radikalen Islam ausrotten

<p>Marine Le Pen hat stets betont, den radikalen Islam ausrotten zu wollen. Auch der konservative Vertreter des alten Establishments, François Fillon, verspricht hier einen kompromisslosen Kurs. Er steht für Überwachung und Law-and-Order. Fillon ist für das linke und liberale Frankreich nur unter großen Schmerzen und Selbstverleugnung wählbar. Sollte er gemeinsam mit Le Pen in die Stichwahl am 7. Mai kommen, ist ein Sieg der Rechtsextremen wieder ein Stück wahrscheinlicher. Es steht zu befürchten, dass viele dann lieber "angeln gehen", wie es ein Franzose ausdrückt, während Le Pen ihre Anhänger dazu mobiliseren kann, ihren politischen Willen an der Urne tatsächlich zu vollstrecken.<p>Klar ist, dass Frankreich ein Systembruch ins Haus steht. Das Establishment hat abgewirtschaftet, über Jahrzehnte haben sich Sozialisten und Konservative an der Spitze des Staates abgewechselt. Damit scheint jetzt Schluss zu sein.

<p>Der sozialistische Noch-Präsident François Hollande verlässt die politische Arena als Ritter von der traurigen Gestalt. Er tritt gar nicht mehr an, gibt zu, versagt zu haben - so etwas hat unter Politikern Seltenheitswert. Bei nur noch vier Prozent Unterstützung ist es aber nachvollziehbar. Benoît Hamon, Bildungsminister unter Hollande, zieht für die Sozialisten in die Schlacht. Er gilt als chancenlos, auch wenn er sich wortreich von Hollande distanziert.<p>Analysten, Soziologen und Kommentatoren betonen, dass man einen klaren Sieg Le Pens zwar nicht auf den Zetteln habe, dass es aber viele Gründe gäbe, die einen solchen Sieg plausibel machten. Ein Erfolg des hochgejubelten Macron sei "kein Selbstläufer", warnt etwa der Ökonom Holger Sandte von der Bank Nordea. Für Le Pen spricht etwa, dass der sogenannte "radical right gender gap" bei ihr nicht zum Tragen kommt - die traditionelle Skepsis weiblicher Wähler gegenüber extremsitischen Parteien. In der Tat wird Le Pen, wie "Die Zeit" in ihrer jüngsten Ausgabe schreibt, von ebenso vielen Frauen wie Männern gewählt. Wobei es keine Hinweise darauf gibt, dass sich Männer von einer Frau an der Spitze einer rechtsnationalen Partei abschrecken lassen.<p>Le Pen gewinnt an Zuspruch bei Frauen, weil sie gegen die Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern vorgehen will. Frauen stellen in Frankreich 80 Prozent der schlecht bezahlten ungelernten Servicekräfte, der soziologische Wandel treibt sie aus den Bürojobs in das Service-Prekariat. Dort stehen sie in Konkurrenz zu Migranten - und auch hier hat Le Pen ein Versprechen, das in vielen Ohren wie Musik klingt: totale Abschottung und "Ausländer raus".<p>Zudem dürfte Le Pen gehörig von der Missstimmung profitieren, die die Causa François Fillon verursacht hat. Der Konservative ist mit Vorwürfen konfrontiert, er habe seine Frau und zwei seiner Kinder auf Staatskosten mit nicht existierenden Jobs versorgt. Fillon entschuldigte sich, erklärt sich aber beharrlich für unschuldig, was ein schlechtes Licht auf die politische Klasse per se wirft und die Wähler in Scharen in die Arme der extremen Rechten treibt. Wobei es Le Pen gelungen ist, sich als eine Ikone des Anti-Establishments zu stilisieren. Betrugsvorwürfe gegen Le Pen gibt es zwar, doch die verfangen nicht.<p>Die französische Präsidentschaftswahl 2017 ist ein Kampf der vermeintlichen Außenseiter um die Macht, die Dramaturgen unter den Wahlbeobachtern fiebern bereits einem Showdown zwischen Le Pen und Macron entgegen. Es geht um den Fortbestand der EU oder ihren schrittweisen Untergang, es geht um die Wahl zwischen einer offenen Gesellschaft und völliger Abschottung. Wer gewinnt, ist offen, klar ist, dass die Franzosen, ähnlich wie im Revolutionsjahr 1789, mit der politisch herrschenden Klasse abrechnen wollen. Dazu werden Typen wie Fillon gezählt, der sich von Anwälten afrikanischer Potentaten sündteuer Anzüge schenken lässt und sich mutmaßlich schamlos aus der Staatskasse bedient.<p>

Die Stimmung weist in Richtung Krawall

<p>Die Stimmung weist in Richtung Krawall. Laut Umfragen sind die Franzosen so pessimistisch und wütend wie kaum je zuvor. 81 Prozent sind der Ansicht, alles entwickle sich zum Schlechteren, nur drei Prozent sind optimistisch. Mit ein Grund dafür ist, dass die ökonomische Lage festgefahren ist. Der Grad an Regulierung ist enorm, während ein Viertel der französischen Jugendlichen arbeitslos sind. Viele, die Arbeit haben, können keine dauerhafte finden und leben in permanenter Unsicherheit. Kein Vergleich mit der hohen Jobsicherheit, der sich noch die Elterngerneration erfreute.<p>Diese Probleme sind nicht neu, sie haben sich über Jahrzehnte aufgebaut, doch die politische Elite war nicht fähig, etwas daran zu ändern. Durchgreifende Reformen sind am Widerstand der Gewerkschaften und Streikbewegungen kolossal gescheitert. Sarkozys Reformagenda wurde von der internationalen Finanzkrise 2007/8 zur Strecke gebracht, Hollande wollte einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent für Reiche einführen - und fiel damit auf die Nase.<p>Marine Le Pen will der verfahrenen Lage mit einer Mischung aus Abschottung und mehr sozialer Wohlfahrt zu Leibe rücken. Sie hat sich von ungeschminktem Rassismus, Antisemitismus und rechtsradikaler Wiederbetätigung, für die ihr Vater Jean-Marie stand, verabschiedet und macht Globalisierung und Islamismus für Probleme wie den Terror verantwortlich. Die EU ist für sie ein "undemokratisches Monster", sie will Moscheen, ja das ganze das Land für Immigranten schließen, den Franc wieder einführen und ein Referendum zu einem EU-Austritt abhalten.<p>Macron verspricht kein solches Wohlfühlparadies auf der einsamen Insel. Er ist für Freihandel, für mehr Wettbewerb, will den umfassenden Arbeitnehmerschutz abbauen, um neue Jobs zu schaffen. Fillon geht noch weiter. Er hat angekündigt, 500.000 öffentlich Bedienstete abbauen und heilige Kühe, wie die 35-Stunden-Woche, schlachten zu wollen.<p>Le Pen setzt auf Emotion, sie schürt Hass und will strafen: Migranten, Konzerne, Linke, moderate Rechte, die EU und die Deutschen. Sie punktet damit bei den Jungen. Das Meinungsforschungsinstitut Ifop prognostiziert, dass sie in der ersten Runde fast ein Drittel aller Stimmen der jungen Wähler erhalten wird - mehr als jeder andere Kandidat.<p>Das ist eine Entwicklung, die im krassen Gegensatz zu den USA und Großbritannien steht, wo vor allem die ältere Generation für Trump und den Brexit gestimmt hat.<p>Frankreichs Junge arbeiten unter schlechten Bedingungen, ein Viertel ist ohnehin arbeitslos. Das Versprechen umfassender Sozialleistungen, staatlicher Zuschüsse auf Gehälter sowie Steuersenkungen zieht hier. Dazu kommt, dass sich der Front National auf Funktionärsebene als junge Partei, die Chancen bietet, präsentiert. Dort kann man schnell Karriere machen, während bei den anderen Parteien die Posten noch auf Jahre besetzt sind.<p>Macron setzt dem nationalistischen "Wuthammer" das Image des jugendlichen, smarten Revoluzzers entgegen, der Frankreich aufrütteln und modernisieren will. Da spielt es keine Rolle, dass er bereits ein Ministeramt bekleidete und Absolvent einer der "Grandes écoles" ist. Ohne ein Diplom einer dieser Einrichtungen kommt man in Frankreich nicht an die Spitze, und das gilt seit jeher. Auch will es sich Macron nicht unbedingt mit dem Kapital verscherzen, was ihm von vielen Seiten vorgeworfen wird.<p>Macron steht für die helle Seite der Macht, seine Kampagne versprüht Hoffnung, wirkt von der des Ex-Präsidenten Barack Obama inspiriert. Der 39-Jährige stellt sein Privatleben bewusst in den Vordergrund, Frau Brigitte tritt stets an seiner Seite auf. Dass sie 24 Jahre älter ist als Macron, bringt ihm Pluspunkte in einem Wahlkampf, in dem es eher um Inszenierung als um Inhalte ging.<p>Die generelle Proteststimmung ist nicht nur Wasser auf den Mühlen der Rechten. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist es Jean-Luc Mélenchon, der im Aufwind ist. Der linke Polit-Haudegen bedient sich modernster Mittel, ist per Hologramm dreidimensional gleichzeitig in verschiedenen französischen Städten am Werk. Er spricht den künftigen Bruch mit dem alten System am offensivsten an. Er werde "der letzte Präsident der Fünften Republik sein", sagt er. Mit einer vom Volk abgesegneten neuen Verfassung will er die "Präsidenten-Monarchie" abschaffen, Umweltschutz soll Vorrang bekommen, die "Rolle Frankreichs für den Frieden" soll in der Verfassung festgeschrieben werden. In YouTube-Videos kritisiert er 65-Jährige die "Übermacht" der EU und sagte der Finanzwelt den Kampf an. Mélenchon fordert eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, systematische Volksabstimmungen. In Umfragen legte zuletzt stark in der Wählergunst zu.<p>

Wer links wählt, wählt Mélenchon

<p>Klar ist: Wer links wählt, wählt Mélenchon und nicht Benoît Hamon von den Sozialisten, einer nach fünf Jahren Hollande diskreditierten System- und Establishment-Partei. Da hilft es auch nichts, dass Hamon ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Reduzierung der Arbeitszeit will. Die Zeichen stehen auf Sturm in Frankreich, dem Land, in dem schon einmal ein "Ancien Régime" vom Volk einfach hinweggefegt wurde.

Von "Cohabitation" bis Demokratieverweigerung. Welche Enttäuschungen zur heutigen Politikverdrossenheit geführt haben:

1981: Francois Mitterrand wird nach 25 Jahren konservativer Regierung sozialistischer Präsident. Nach zwei Jahren im Amt legt er jedoch eine Kehrtwende hin und ändert viele seiner Versprechen.

1986: Die Fünfte Republik erlebt die erste sogenannte "Cohabitation". Bis 1988 regieren der sozialistische Staatspräsident Mitterrand und der konservative Premier Jacques Chirac gemeinsam das Land. Bei den Bürgern entsteht der Eindruck, dass die Vertreter unterschiedlicher Lager gemeinsame Sache machen und sich kaum unterscheiden. Der Front National schlägt Kapital aus der Krise der Volksparteien und bietet für Skeptiker und Enttäuschte eine ideologische Alternative.

1992: Beim Referendum zum Vertrag von Maastricht stimmen 49 Prozent der Franzosen gegen den Vertrag über die EU, 51 dafür. Das Land ist gespalten.

1993 und 1997: Weitere Cohabitationsphasen. Präsident Mitterrand und Gaullist Premier Édouard Balladur arbeiten während der sogenannten "samtenen Cohabitation" friedlich zusammen.

2002: Die Volksparteien verlieren an Zustimmung, der FN schafft es mit Jean-Marie Le Pen zum ersten Mal in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen. In der folgenden Stichwahl unterliegt Le Pen mit 17 gegen 83 Prozent Jacques Chirac.

2005: Beim Referendum zur EU-Verfassung stimmen 55,7 Prozent gegen die Annahme des Vertrages. Im Vorfeld sprachen sich die großen politischen Parteien dafür aus. Das Votum wird übergangen.

2007 und 2012:

Die Präsidenten Nicolas Sarkozy (Republikaner) und François Hollande (Sozialisten) versprechen viel und halten wenig. Das höchste Amt im Land ist angekratzt. Die großen Parteien haben versagt.