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Private Retter unter Druck

Von Michael Ortner

Politik

Immer mehr Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer nach Italien. NGOs fühlen sich von der EU im Stich gelassen.


Wien. Froschgrün, 26 Meter lang und 60 Jahre alt. So lässt sich die europäische Seenotrettung im April 2017 auch beschreiben. In diesen Tagen nähert sich der ehemalige Fischkutter "Sea Eye" bis auf rund 36 Seemeilen der libyschen Küste. Das Schiff des gleichnamigen deutschen Vereins ist von Malta aus zu seiner vierten Mission aufgebrochen, um in Seenot geratenen Flüchtlingen zu helfen. An Bord: Neun Mann Besatzung, davon ein Arzt, mehrere hundert Rettungswesten, Rettungsinseln, Wasser und Notproviant. Ein mickriges Arsenal für tausende Flüchtlinge, die in überfüllten Schlauchbooten und wackligen Holzkähnen auf das offene Meer geschickt werden.

Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sind heuer bis 25. April 44.059 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Der Großteil von ihnen, 36.000, flüchtete von Libyen nach Italien auf der zentralen Mittelmeerroute. Das sind 43 Prozent mehr Menschen im Vergleich zum Vorjahr, heißt es von der Grenzschutzagentur Frontex. Mehr als 1000 Menschen sind bei ihrer Flucht seit Jahresbeginn ums Leben gekommen.

Ziemlich sicher werden es heuer noch mehr werden. Denn mit der warmen Jahreszeit steigt auch wieder die Zahl der Flüchtlingsboote. Dass sich die Situation bereits jetzt zugespitzt hat, zeigt ein Vorfall am Osterwochenende. Die Schiffe mehrerer Hilfsorganisationen waren mit einer ungewöhnlich hohen Zahl an Flüchtlingsbooten konfrontiert. So auch die "Sea Eye", deren Crew mehr als 80 Stunden im Einsatz und am Ende ihrer Kräfte und Kapazitäten war. Den Notrufen aus der Seenotleitstelle MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) in Rom kam das Schiff kaum noch hinterher.

Grauenhafte Szenen

Im Logbuch schreibt Kapitän Thomas Nuding später: "So kam es zu grauenhaften Szenen, da Menschen neben unseren Schlauchbooten schwammen und panisch schrien, während wir versuchten, Frauen und Kleinkinder an Bord unserer Schlauchboote springen zu lassen und die Menschen im Wasser nicht alle bergen konnten." Zeitweise befanden sich mehr als 280 Menschen an Bord der "Sea Eye", die damit hoffnungslos überladen war. Am Ostermontag musste der Kutter schließlich ein Notsignal absetzen, da sich der Zustand der Flüchtlinge an Bord verschlechterte. Die Retter wurden so selbst zu Geretteten.

Grund dafür ist das Ende der italienischen Seerettungsmission "Mare Nostrum" im Oktober 2014. Seither sind weniger staatliche Rettungsschiffe vor den Gewässern Libyens unterwegs. Die Aufgabe der Erstrettung wird häufig den privaten Organisationen überlassen. "Es sind zu wenige Retter unterwegs. Staatliche Schiffe betreiben keine aktive Suche, denn sie helfen erst, wenn sie gerufen werden", beklagt Hans-Peter Buschheuer, Sprecher des Vereins "Sea Eye" gegenüber der "Wiener Zeitung".

Ganz gleich, wo in internationalen Gewässern ein Boot oder Schiff in Seenot gerät, jedes Schiff ist zur Rettung verpflichtet. "Das wird von den Schleppern ausgenutzt", sagt Völkerrechtler Gerhard Hafner. Davon, dass die Schlepper dies zum Vorteil nutzen, ist auch Frontex-Sprecherin Izabella Cooper überzeugt. Die Behörde hat festgestellt, dass immer mehr Flüchtlinge auf die Boote gequetscht werden. Waren es 2014 noch 90 Personen, so befinden sich heuer fast doppelt so viele auf einem Boot der gleichen Größe. Schlimmer noch: Oft wird ihnen gerade noch so viel Benzin in den Tank gegeben, um libysche Hoheitsgewässer, also alles außerhalb von zwölf Seemeilen, zu verlassen. Außerdem wurden Schlepper beobachtet, die den Flüchtlingskähnen - sobald sie von Rettern entdeckt wurden - den Motor eilig abmontierten. So könnten ihn die Schlepper noch einmal verwenden.

Zwölf private Rettungsschiffe

Während die insgesamt zwölf Rettungsschiffe von privaten Hilfsorganisationen vor allem nahe der libyschen Küste unterwegs sind, wo die meisten Notrufe von Flüchtlingen abgegeben werden, erstreckt sich das Einsatzgebiet von Frontex von Algerien bis zur Türkei über den gesamten Mittelmeerraum. Elf Schiffe, zwei Helikopter und drei Flugzeuge stehen der Mission "Triton", die auf "Mare Nostrum" folgte, zur Verfügung. Neben der Rettung von Flüchtlingen besteht die Hauptaufgabe aber auch in der Grenzsicherung- und Überwachung. Auf Schlepper hat es hingegen die EU-Operation "Sophia" abgesehen, die mit fünf Schiffen und sechs Hubschraubern ausgestattet ist. Ihr Mandat läuft noch bis 27. Juli 2017.

Neben "Sea Eye" hat auch "Ärzte ohne Grenzen" zwei Schiffe im Mittelmeer im Einsatz. Im laufenden Jahr haben beide bisher 6502 Menschen gerettet. "Wir müssen dort präsent sein, wo lebensrettende Hilfe gebraucht wird", sagt "Ärzte ohne Grenzen"-Sprecher Florian Lems. Eigentlich wäre dies die Hauptaufgabe von Frontex und der EU. "Wir haben das Gefühl, dass Frontex nicht dort ist, wo Hilfe gebraucht wird", sagt Lems.

Die Hilfsorganisationen kämpfen indes noch an einer anderen Front. Vor wenigen Tages warf die Staatsanwaltschaft von Catania den Helfern vor, mit libyschen Schleppern zusammenzuarbeiten. "Wir haben Beweise für direkte Kontakte zwischen manchen NGOs und Schleppern aus Libyen", sagte Staatsanwalt Carmelo Zuccaro der italienischen Zeitung "La Stampa". Im Visier der Behörden stehen kleine Organisationen wie die maltesische "Moas" oder der Verein "Sea Eye", nicht jedoch "Ärzte ohne Grenzen" oder "Save the Children". Anschuldigungen wie diese gab es bereits in der Vergangenheit. Neu ist jedoch der Vorwurf, dass die Retter mit Leuchtfeuern auf ihre Boote aufmerksam gemacht haben sollen. Zudem hätte Zuccaro Informationen über Anrufe aus Libyen an die privaten Organisationen.

"Wir arbeiten weder direkt noch indirekt mit Schleppern zusammen", sagt Buschheuer. Denn die Notrufe über in Seenot befindliche Flüchtlinge bekommt "Sea Eye" vom MRCC in Rom, einer Einrichtung des italienischen Militärs. Diese Seenotleitstelle gibt über Funk die Koordinaten einer mutmaßlichen Sichtung durch. Manchmal gebe es auch eigene Sichtungen, sagt Buschheuer.

Zwar würde die "Sea Eye" im Abstand von 24 bis 36 Seemeilen - rund 44 bis 66 Kilometer - vor der libyschen Küste patrouillieren, doch mit Leuchtsignalen könnte man die Flüchtlingsboote gar nicht anlocken. "Diese Leuchtfeuer würde man nach wenigen Meilen nicht mehr sehen, wenn wir sie denn überhaupt hätten." Er stellt auch klar: "Wir transportieren die Menschen nicht, wir leisten Erstversorgung." Entdeckt die Crew ein Schlauchboot oder einen seeuntauglichen Holzkahn mit Flüchtlingen, werden zunächst Rettungswesten, Wasser und Notproviant verteilt. Wenn die Boote überfüllt sind, werden Rettungsinseln ausgesetzt, um sie zu entlasten. Parallel dazu wird ein Funkspruch an das MRCC gesendet, die dann das nächstgelegene Schiff - meist ein Schiff der italienischen Marine oder Küstenwache - auffordert, zum Fundort zu fahren.

Freiwillige Helfer

Die "Sea Eye" kann ohnehin nicht viele Menschen aufnehmen, wie sich zu Ostern gezeigt hat. Seit April 2016 hat die Organisation 7500 Menschen gerettet, heuer rund 2000. Der Einsatz im vergangenen Jahr kostete 250.000 Euro, das meiste davon sei für Sprit und Reparaturen drauf gegangen. Alle Crewmitglieder arbeiten freiwillig und zahlen sich ihre Flüge nach Malta, dem Heimathafen des Schiffes, selbst. Reedereien spendeten Rettungswesten. Besorgt ist Buschheuer wegen der Ermittlungen dennoch. Sie könnten potenzielle Spender abschrecken.

"Ärzte ohne Grenzen", die von den Vorwürfen ausgenommen sind, betrachtet die Anschuldigungen dennoch als "nicht nachvollziehbar und empörend". "Der Vorwurf entbehrt jeder Grundlage", sagt Lems. Seit 2015 ist die Organisation mit Rettungsschiffen im Mittelmeer aktiv, vergangenes Jahr hatten die Schiffe 200 Einsätze, bei denen 30.572 Menschen gerettet wurden. Die Einsätze würden immer eine "sehr koordinierte, aber hektische Angelegenheit" sein, meint Lems.

Wie auch die "Sea Eye" bewegen sie sich rund 25 Seemeilen vor der libyschen Küste und warten auf Notrufe vom MRCC. Eines der Schiffe kann im Notfall bis zu 1000 Menschen aufnehmen und versorgen. Danach werden die Schiffe einem sicheren Hafen zugeteilt, um die Flüchtlinge an Land zu bringen.