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Europa zwischen Geist und Ungeist. Nationalismus und Konzepte europäischer Föderation in historischer Perspektive

Von Ulrike Guérot

Politik
Ulrike Guérot bei ihrem Vortrag.

Antrittsvorlesung an der Donauuniversität.


Sehr geehrter Herr Rektor Mag. Faulhammer,
sehr geehrter Herr Dekan Prof. Steiner,
sehr geehrte und geschätzte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Donau-Uni,
liebe Gäste,

Ich freue mich sehr, hier und heute meine Antrittsvorlesung an der Donau-Uni halten zu dürfen: es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass mir die Leitung des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung übertragen wurde.
Gestern haben wir das Department mit einem öffentlichen Europatag eröffnet; heute möchte ich Sie in dieser Antrittsvorlesung in eine Zeitreise mitnehmen: Europa und Konzepte europäischer Föderalisierung – damals und heute: was ist ähnlich, was ist anders? Die historische Kontextualisierung könnte uns erlauben, einen Ausweg für die derzeitige europäische Krise zu finden, die uns allen Unbehagen bereitet.

Am vergangenen Wochenende waren in Frankeich Wahlen und Marine Le Pen hat ein beachtliches Ergebnis erzielt, auch wenn sie vermutlich nicht Präsidentin Frankreichs wird. Wochenlang zuvor wurde indes diesen Wahlen entgegengefiebert, wie schon zuvor in Österreich bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2016 oder bei den niederländischen Wahlen im März 2017, wo zu befürchten stand, dass die PVV von Geert Wilders stärkste Partei wird. "Die Falschen" könnten gewinnen, Rechtspopulisten das politische System erobern, heißt es oft in Kommentaren. Mit Unbehagen wird der Wahlsieg von Donald Trump in den USA beäugt und sein politisches Verhalten mit Sorge beobachtet. Wer oder was aber ist "falsch" in der Politik? Kann man das so sagen? Und wer überhaupt ist "das Volk"? Gibt es eins? Und was hat das alles mit Europa zu tun?

Diese und andere Fragen möchte ich in den folgenden ca. 45 – 50 Minuten kurz anreißen – freilich ohne verbindliche Antworten geben zu können. Vielleicht aber kann die eine oder andere Bemerkung hier zum Nachdenken anregen, denn das ist es, was Sozialwissenschaft vor allem tun soll: laut nachdenken, die Zeitgenossenschaft reflektieren und soziale, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge erfassen und beschreiben. Das ist nicht viel, aber es ist vielleicht einiges, um sich immer wieder in der Zeit und der Realität zu verorten, damit diese nicht einfach davonläuft. Schon Niklas Luhman bedauerte in seiner Vorlesung zur Gesellschaftstheorie 1972, dass die Wissenschaft, vor allem die Sozialwissenschaft, leider die Tendenz habe, sich, ich zitiere, "in ihre eigene Theoriegeschichte, in ihre eigene Methodik und in ihre Datenanalyse so sehr einzuspinnen", dass, , "die Realität derweil einfach wegläuft". Vor diesem Hintergrund möchte ich es zum Anspruch des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung machen, immer einen aktuellen Blick auf die politischen Ereignisse zu haben, damit die Wissenschaft nicht, wie die Eule der Minerva, zu spät die problematischen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse beleuchtet, die uns derzeit umgeben und dann. Denn, um noch einmal Luhmann zu zitieren, ist es immer auch Aufgabe der Sozialwissenschaft, "wissenschaftlich zuverlässige Beschreibungen" der modernen Gesellschaft zu haben. Und so müssen wir uns heute fragen: was passiert gerade in und mit Europa? Und mit der europäischen Demokratie? Noch einmal Luhmann: Was ist der Fall – und was steckt dahinter?

Meinen Vortrag habe ich in drei große Kapitel bzw. Fragestellungen gegliedert:
Was ist Populismus und was ist das Volk – bzw. erleben wir aktuell überhaupt eine Renationalisierung?
Erleben wir das, was wir erleben, zum ersten Mal – und was waren die Antworten vor rund 100 Jahren? Welche föderalen Konzepte Europas kennt die Geschichte und wie wurde bzw. wird die EU ihnen gerecht?
Wo stehen wir heute mit Europa und wie kann und sollte die europäische Demokratie weiterentwickelt werden? Können wir Verschiebungen messen in dem, was sich vor allem die Jugend heute für ein geeintes Europa wünscht? Denn Zukunft ist nach Klaus Mannheimer immer, was die Jugend denkt und will. Der Generationendynamik muss also im europäischen Diskurs besondere Beachtung geschenkt werden.

Was ist Populismus und was ist das Volk – bzw. erleben wir aktuell überhaupt eine Renationalisierung?

Populismus ist heute negativ konnotiert, vor allem Rechtspopulismus, und eigentlich ist das erstaunlich. Noch vor 100 bis 150 Jahren war es vor allem die Sozialdemokratie, also die Linke, die stolz darauf war, dass die classes populaires ihr gehören: die Linke kümmerte sich ums Volk. Populist zu sein ist darum a priori nichts schlechtes, ist doch Politik das "Kümmern" um den Populus, das Volk.
Wenn wir von Populismus sprechen, dann beklagen wir heute etwas anderes: wir beklagen einen Riss zwischen Eliten, dem sogenannten "Establishment" und "dem Volk". Es geht mir, um es vorweg zu sagen, hier nicht darum, mit dem Finger auf die sogenannten Rechtspopulisten zu zeigen. Sondern darum, ganz kurz anzureißen, wie der europäische Rechtspopulismus aufkommen konnte, wie er sich durch systemische Mängel im institutionellen System der EU in den europäischen Demokratien festsetzen konnte und die liberalen Demokratien jetzt bedroht; und wie er von nationalen Steuerungseliten insofern instrumentalisiert wird, als dass ganze politische Systeme jetzt offenkundig nach rechts rutschen. Anders formuliert: der Rechtspopulismus ist nicht originär der Grund der heutigen europäischen Malaise; sondern er ist selbst Reaktion auf Fehlsteuerungen im europäischen System, vor allem innerhalb der Euro-Governance. Diese Fehlsteuerungen haben das soziale Europa vernachlässigt, den ländlichen Regionen in allen EU-Mitgliedsstaaten abgehängt und die Einkommensunterschiede in allen europäischen Ländern verschärft und strukturell verfestigt. und Das ist in der heutigen Sozialwissenschaft – und man kann hier große Köpfe nennen: Habermas, Streeck, Scharpf, Lordon, Stiglitz, Smith, Mason, Crouch - weitgehend unbestritten.
Auf dem Nährboden einer sozialen Krise und durch die verhängnisvolle Verkettung von Banken- und Flüchtlingskrise konnte der Rechtspopulismus die politischen Systeme in Westeuropa befallen wie Mehltau. Wir erleben, in dem Begriff von Oliver Nachtwey, jetzt die große "Regressive Moderne" – modern, weil immer noch alles weiter geht, die das Wachstum und die technologische Entwicklung, regressiv, weil nicht mehr alle daran gleichermaßen Teilhabe haben. Die "Regressive Moderne" spaltet. Jetzt greift Panik um sich und von allen Seiten schallt es, die liberale Demokratie müsse verteidigt werden. Doch für die EU muss gelten: die Liebe zum Eigenen fängt mit der Selbstkritik an. Mit Fingerzeigen auf den Rechtspopulismus ist es nicht getan.
Die These ist hier, dass die gemeinsame Währung ohne eine europäische Demokratie und darum ohne eine europäische Sozialstaatlichkeit (z.B. eine europäische Arbeitslosenversicherung) gemacht wurde, die vor allem in den letzten Jahren und vor allem in Südeuropa einen Teil der sozialen Krise hätte abpuffern können und dass den populistischen Rechtsruck verschärft hat. Die europäischen Nationalstaaten – und damit die europäischen Bürger - wurden zueinander in Konkurrenz gestellt – anstatt ein gemeinsames europäisches Gesellschaftsmodel zu entwickeln.
Auf einmal gab es wieder die Deutschen und die Griechen und die Franzosen und die Italiener, und die einen waren faul, die anderen fleißig, die einen reformunfähig usw.

Hier liegt auch die Analogie zu den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die u.a. deswegen im Greuel des Nationalismus gelandet sind, weil die Nationalstaaten sich permanent in wirtschaftliche Konkurrenz (Stichwort: "Flottenbau" & Kolonien) zueinander gestellt haben, ohne es zu schaffen, sich um ein gemeinsames politisches und soziales Gesellschaftsmodell in Europa zu bemühen. Wir erleben also heute die zweite Krise des Liberalismus, auf die die gemeinsame europäische Antwort immer noch nicht gefunden wurde. Wo das europäische Gesellschaftsmodell damals nicht im Angebot war, wurde Europa zwischen Kommunismus und Faschismus zerrieben. Heute wird Europa zwischen Neo-Liberalismus und Rechtspopulismus zerrieben. Dazwischen fehlt ein Gesellschaftsentwurf für eine nach-nationale europäische Mitte. Und ob wir es heute schaffen, dies ist genau die Frage, die wir als Zeitgenossenschaft zu beantworten haben.
Konzepte europäischer Föderation gibt es seit langem und nicht erst seit diesem Jahrhundert: Europa wurde schon in der Zwischenkriegszeit des 19 Jhd, erst recht aber in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts als politische Union gedacht, aber nie als solche vollendet. Die EU (Chart Blaue Fahne) hat den gemeinsame Markt und die gemeinsame Währung geschaffen, nicht aber die gemeinsame Demokratie. Trotz Maastrichter und Lissabonner Vertag ist das bis heute nicht gelungen. Die politische Union, die eine Demokratie fehlen nach wie vor. Insofern stehen die Konzepte europäischer Föderation in langer historischer Perspektive – und das, was derzeit auf dem Kontinent passiert, auch. Positiv kann man sagen: so weit wie heute waren wir noch nie! Immerhin gibt es den Binnenmarkt und den Euro als starke Klammer. Wir haben den Stein des Sisyphus also schon sehr weit nach oben gerollt. Jetzt aber droht er hinabzurollen, eben weil Markt und Währung nicht in eine Demokratie eingebettet sind , der Euro also eine "verwaiste Währung" ist, und Markt und Staat entkoppelt wurden – und genau dagegen wettern die Rechtspopulisten jetzt: raus aus Europa, raus aus dem Euro! Das war die Forderung von UKIP und es ist die von Marine Le Pen; aber auch diejenige von linksradikalen Politiker wie Jean-Luc Mélanchon. Les extrèmes se touchent, die Extreme berühren sich, wir kennen dieses Phänomen aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Problematisch ist indes nicht das "anti-elitistische" Element der heutigen populistischen Bewegungen: es ist das gute Recht des Volkes - besser: von Bürgern – gegen "das Establishment" zu sein. Übrigens war auch z.B. der Mai 68 eine "anti-Establishment-Bewegung", und die fanden die meisten damals ja cool. Problematisch sind vielmehr zwei Dinge: zum einen, wenn die anti-Europa bzw. anti-Euro-Parolen gepaart bzw. überlagert werden von xenophoben, rassistischen Parolen, die unter Verweis auf die Würde des Menschen im europäischen Wertekanon inakzeptabel sind. Und zum anderen, wenn diejenigen, die sich heute lautstark gegen Europa, den Euro oder auch die Flüchtlinge wenden – von sich behaupten, sie seien "das Volk". Es ist das anti-pluralistische Argument, das nicht verfängt, es ist der Alleinvertretungsanspruch, der nicht zulässig ist.

Denn wer ist das Volk? Wie ist heute mit dem penetranten Ruf nach Referenden umzugehen, der heute allenthalben im Namen der Demokratie und der Partizipation erschallt? Das Volk nämlich ist die Quelle von Legitimität, nicht aber Gesetzgeber und des Volkes Wille noch lange nicht Befehl, denn das "Volk" kann sehr dumme Dinge wollen. Ohne Verfassung ist alles nichts, zitiert Arendt den amerikanischen Gründungsvater Madison. Wer überhaupt ist das britische Volk, mögen sich heute die Briten fragen? Diejenigen, die für den Brexit waren, oder die, die dagegen waren? In guter europäischer Tradition wäre ein Quorum von 2/3 für eine Verfassungsänderung – und nicht anders ist Brexit - das mindeste gewesen, was man zur Auflage des Referendums hätte machen müssen. Jetzt muss der ‚ephemere Gemütszustand‘ der britischen Bevölkerung von jenem verhängnisvollen 23. Juni 2016 exekutiert werden, koste es was es wolle, in diesem konkreten Fall geschätzte 40 bis 60 Milliarden. Wider besseres Wissen wird eine Laune exekutiert, weil es kein Zurück gibt – und ganz Europa wird mit in das Desaster gezogen, obgleich die anderen Europäer, also wir, nicht darüber mitentscheiden durften – wir aber auch einen Schaden davon haben werden. Der Brexit ist ein gutes Beispiel für die Eigendynamik eines politischen Prozesses, in dem ein ganzes Land eyes wide shut into disaster geht, der gesunde Menschenverstand nichts mehr ausrichten kann und dann etwas schön geredet werden muss, von dem viele inzwischen fühlen, dass es unschön ist. Kurz: Plebiszit ist nicht Partizipation, die in umgrenzten lokalen oder regionalen Räumen durchaus sinnvoll und gute sein kann, solange Abstimmung und Verantwortung nicht entkoppelt und eine vernünftige Folgenabschätzung gewährleistet ist.
Legitimität wird in der repräsentativen Demokratie genau dadurch erreicht, dass das Parlament verantwortlich ist, weswegen die Abgeordneten abgewählt werden können, wenn sie ihrer Verantwortung nicht nachkommen. Das Volk aber kann nicht abgewählt werden. Es kann seine Entscheidungen nicht rückgängig machen und es kann auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wohl aber ein Parlament, das ebenso das Recht hat, die Entscheidungen der Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Das Volk, so Thomas Hobbes im Leviathan, kann als solches nie gegenwärtig sein und kann daher immer nur repräsentiert werden. Der populus als politischer Körper ist nicht gleich der Bevölkerung, aber nur sie kann befragt werden. Vor allem der österreichische Staatsrechtslehrer Hans Kelsen, der viel mehr perzipiert werden sollte, hat darum immer wieder die Gleichsetzung von Demokratie mit Parlamentarismus, also mit der repräsentativen Demokratie betont. Heute wird die repräsentative Demokratie durch den Populismus ausgehebelt und wir verfallen der "Tyrannei der Mehrheit", die schon bei Aristoteles immer das Unheil ankündigte.
Der sogenannte Populismus spaltet viele europäischen Staaten in zwei Lager und wir erleben das als politische Krise: Es gibt Brexit-Gegner und Brexit-Befürworter, Hofer-Anhänger und Hofer-Gegner, Marine Le Pen-Wähler und Marine Le Pen Gegner, AfD-Wähler und solche, die dagegen demonstrieren. Wir beobachten de facto keine Renationalisierung, sondern eine Spaltung von Staaten in verschiedene gesellschaftliche Gruppen, Parteien, Klassen, oder Regionen. Heute steht die City of London gegen das industrialisierte Nordengland, die Jugend gegen Wales oder Schottland und Nordirland gegen England. In ganz Europa ist es sehr oft die Stadtbevölkerung gegen das Land, oder Zentrum gegen Peripherie, gebildet und mobil gegen weniger gebildet und immobil. Mit Nationalität aber hat das alles nur noch sehr wenig zu tun. Das Volk ist nicht geeint, es geht nicht um Großbritannien gegen Europa, sondern um Briten gegen Briten, um Adepten einer Schließungsagenda vs. die Anhänger einer gesellschaftlichen Öffnung.
Die "Schließung" des heutigen Populismus wiederum bezieht sich auf zwei Merkmale: eine ökonomische "Schließung" (gegen Freihandel); und auf eine normative Schließung (gegen Homo-Ehe, gegen Abtreibung, gegen Überfremdung etc.). Was wir also eigentlich erleben, ist keine Renationalisierung, sondern gerade den Zerfall des politischen Körpers der Nationalstaaten in Europa. Es gibt kein "einheitliches Volk" mehr in Österreich, Großbritannien oder Frankreich, und auch nicht in Polen, sondern es steht Menge gegen Menge, anders formuliert: es stehen Pegida-Demonstranten gegen #pulseofeurope-Demonstranten.
Ein Teil der Bürger glaubt etwas grundsätzlich anderes und steht mithin einem anderen Teil der Bürger unversöhnlich gegenüber. Keiner der beiden Teile kann für sich beanspruchen, den anderen Teil, den Staat oder das Volk in seiner Gänze zu repräsentieren. Wo aber die Krise der Repräsentation den politischen Körper zerlegt, da herrscht stricto sensu Bürgerkrieg insofern, als dass es nur noch konkurrierende Mengen von Bürgern gibt, von denen keine die politische Vertretung für alle beanspruchen kann. Der politische Körper zerfällt, er löst sich auf und muss neu begründet werden. Wie Giorgio Agamben schreibt, bedeutet Bürgerkrieg immer eine Politisierung der Bürgerschaft. Genau das erleben wir heute. Eine nervöse europäische Zivilgesellschaft rüstet gegen den Populismus auf. Selten wurde so viel diskutiert über Europa wie heute, längst haben die meisten erkannt, dass die Politik ihr persönliches Leben unangenehm betreffen kann, was lange nicht mehr der Fall war.
Der Zerfall des politischen Körpers, der Zerfall der europäischen Nationalstaaten, dem wir beiwohnen, aber könnte der Ausweg aus der europäischen Krise sein. Die dahinter stehende Wahrheit ist: die Natur kennt (schafft) kein Volk! Die Schaffung eines politischen Körpers hängt nicht von einem Volk ab, sondern vom Willen zur Konstitution. Genau das indes könnten wir uns für Europa zunutze machen. Wenn wir diesmal einen anderen Weg nehmen, als der, der vor rund einhundert Jahren beschritten wurde, anders formuliert: wenn wir diesmal den Nationalismus überwinden und Europa als politischen Körper neu konstituieren, alsowenn es uns diesmal gelingt, eine europäische Demokratie und ein europäisches Gesellschaftsmodell zu schaffen.


Erleben wir, was wir erleben, zum ersten Mal – und was waren die Antworten vor rund 100 Jahren? Welche föderalen Konzepte Europas kennt die Geschichte und wie wird die EU ihnen gerecht?


In seiner Schrift Das geheime Europa, kurz vor seinem Tod an der Front verfasst, deutet der Maler Franz Marc den Ersten Weltkrieg als einen Kulturkampf geistig-moralischer Art, der zwischen den Kräften eines progressiv-künstlerischen und eines säkularisiert-materialistischen Europas ausgetragen würde. Zum ersten Mal wird der Erste Weltkrieg als ein Bürgerkrieg innerhalb einer kulturellen Einheit beschrieben:
"Denn in diesem Kriege kämpfen nicht, wie es in Zeitungen steht und wie die Herrn Politiker sagen, die Zentralmächte gegen einen äußeren Feind, auch nicht eine Rasse gegen die andre, sondern dieser Großkrieg ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes. Das muss einmal ausgesprochen und begriffen werden; dann wird man auch begreifen, dass wir nach dem entsetzlichen Blutopfer des Krieges den inneren Feind, den Ungott und Unhold Europas, die Dummheit und Dumpfheit, das ewig Stumpfe mit allen Waffen fort und fort bekämpfen müssen, um zu helleren Klängen, zur Helligkeit des europäischen Typus durchzudringen."

Berufen wir uns auf dieses Zitat des bekannten Malers Franz Marc, dessen verschollenes, berühmtes Bild "Die blauen Pferde" gerade in einer Ausstellung in Berlin geehrt wurde, dann erleben wir, was wir gerade erleben, nicht zum ersten Mal, sondern es gibt Analogien zu der Zwischenkriegszeit voreinhundert Jahren. Alles ist anders als damals – und doch ist vieles vergleichbar. Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, schreibt Leopold von Ranke. Nichts von damals lässt sich ernsthaft mit der heutigen Situation in der EU vergleichen, weder die gesellschaftliche, noch die wirtschaftliche oder politische Struktur, auch nicht der historische oder globale Kontext. Und doch gibt es Parallelen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: eine rasante technologische Beschleunigung – was heute das Internet und die Roboter sind, waren damals der Telegraphenmast und die Flugzeuge; eine wachsende Zahl von Modernisierungsverlierern – damals die Masse der freien Landarbeiter und von der Industrieverdrängten Handwerker, heute die unqualifizierten und prekären Arbeitnehmer*Innen. Und nicht zuletzt eine neue "Krise der Männlichkeit": was damals die erste Demontage des Patriarchats durch das Frauenwahlrecht war, ist heute die Forderung nach 40% Frauen in den Vorständen. ‚Männlich‘ ist nach ‚Bildung‘ der zweitwichtigste Faktor bei rechtspopulistischen Voten. In seinem Buch Männerphantasien beschrieb Klaus Theweleit schon in den 70ern anschaulich, dass Nationalismus, Militarismus und schließlich Faschismus u.a. auch eine Reaktion auf die erste Frauenbewegung war. Auch heute geht es um Schutz, Sicherheit und nationalen Rückzug, gepaart mit autoritärer Versuchung und dem Wunsch nach starker Führung, vor allem bei jungen Männern, die den Glauben in die Demokratie zunehmend verlieren. Verschiedene Faktoren führen also zu einer großen Verunsicherung in der Bevölkerung, die schlichtweg den Glauben an die Politik, oder das System verliert – und daran, dass die Politik die Dinge für sie besser macht.

Insofern sind weniger Populismus und Nationalismus auf dem Vormarsch, sondern, in den Worten von Marc, der europäische Ungeist, und wieder trägt er autoritäre Züge. Es geht im Kern um anti-aufklärerisches Denken, und zwar über nationale Grenzen hinweg. sondern es geht darum, ein Argument gegen anti-aufklärerisches Gedankengut zu machen, das das Erbe der europäischen Revolution verrät: Liberté, Egalité, Fraternité. Der erste Satz der Menschenrechtserklärung von 1789 lautet: "Alle Menschen sind geboren frei und gleich in ihren Rechten." Das Erbe der Aufklärung bedeutet, dass in Europa nicht nach Nationalität unterschieden werden darf. Wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, Gerichtshöfe in ihrer Arbeit unterminiert werden und nach Nationalität unterschieden wird, wird das europäische Erbe der Aufklärung verraten.
In Ungarn und Polen beispielsweise ist die freie Presse und eine unabhängige Gerichtsbarkeit bedroht bzw. teilweise schon abgeschafft, in Ungarn kämpft eine Universität, die Central European University, um ihr Bestehen. Die Wissenschaft ist also in Ungarn längst nicht mehr frei sondern soll einer Lenkung unterzogen, kritisches Denken soll unterbunden werden. Vielleicht auch aus diesem Anlass gingen vergangenen Samstag viele Menschen auf die Straße, um für eine freie Wissenschaft zu demonstrieren. Als Universität der Weiterbildung steht auch die Donau-Uni in der Verpflichtung, das Erbe der Aufklärung, nämlich freie Wissenschaft und kritisches Denken zu verteidigen, denn Bildung ist mehr als Ausbildung.

Anders formuliert: es tobt wieder ein Bürgerkrieg um Glaubenssätze, um das, was Gut ist, um das, was man glauben soll, worauf sich die Gesellschaft nicht mehr einigen kann: ein Bürgerkrieg des Geistes. Was erodiert ist, mit Hannah Arendt gesprochen, die Urteilsfähigkeit der Gesellschaft, genauer: die Gesellschaft verliert ihre Vor-Urteile. "Vorurteil" ist ein Wort, das meistens negativ konnotiert ist. Aber Vor-urteile sind ein notwendiges Gerüst für eine Gesellschaft, denn nicht jeder kann ständig über alles urteilen, also beruht jede Gesellschaft auf Vorureilen, die vorausgehende Generationen für die Gesellschaft getroffen haben und die die Gesellschaft als gültig akzeptiert, auf die sie sich geeinigt hat und auf denen sie ihre Urteilskraft begründet. Im Westen, also Europa und den USA waren solche "Vorurteile" lange Zeit gängige politische Annahmen, die Sie alle kennen: die USA sind gut, Die UdSSR war böse, Israel ist gut die Palästinenser sind eher radikal, der Holocaust hat stattgefunden, Wissenschaft kennt empirische Befunde, die nicht hinterfragt werden können, der Klimawandel findet statt, der Markt und Freihandel sind gut usw. Alles Deutungshoheiten, die uns lange Jahre begleitet haben.
Das Phänomen des "Populismus", des Bürgerkrieges des Geistes ist, dass sich genau diese Deutungshoheiten gerade in Luft auflösen und Dinge, die wir für "Wahrheiten" gehalten haben, auf einmal hinterfragt werden: in Deutschland gibt es auf einmal "Reichsbürger", die nicht an die Bundesrepublik Deutschland glauben, in den USA Vertreter von Intelligent Design, die an die Schöpfung glauben und Darwin nicht akzeptieren, die den Klimawandel und den Holocaust in Frage stellen. Freihandel ist auf einmal schlecht und nicht mehr gut; kurz: wir verlieren die große Erzählung des Westens, die große Erzählung von Europa, den Glauben an die Dinge, wie sie einmal waren. "Leur monde s’écroule. La notre est construit", ist einer der Sätze von Marine Le Pen.
Wo die Glaubenssätze erodieren, erodiert die Politik, denn Politik ist Repräsentation in einem Staat, was zur Voraussetzung hat, dass man im Kern an die gleichen Dinge glaubt.

Die Intellektuellen der Zeit, allen voran Stefan Zweig, betrachteten in den 20er und 30er Jahren die Kräfte der europäischen Geschichte ebenfalls als alternierenden Grundkonflikt: zum einen den Drang nach Abgrenzung und Abschottung, nach politischer Parzellierung und Verfeindung - der auch heute wieder keimt - und der sich immer wieder in Kriegen entlud ; zum anderen die Entwicklung hin zum größeren, zum europäischen Geist, zur europäischen Einheits- und Verbrüderungsbewegung, die laut Zweig in Europa aus der "ewigen Sehnsucht nach Einheit des Gefühls, Wollens, Denkens und Lebens" hervorgehe. Auch damals tobte in den europäischen Gazetten ein Entscheidungskampf zwischen Nationalismus und Europa.
Heute gelesen, kann man sich nur wundern, wie aktuell die Schriften sind. Zwischen 1925 und 1934, als das faschistische Grollen schon begonnen hatte, sind nahezu 600 Bücher und Zeitschriftenartikel zum Thema europäische Einigung erschienen, und mehr als zehn Vereinigungen warben für eine politische Zusammenarbeit der Nationalstaaten, alle mit mehr oder weniger konkreten Vorschlägen für ein wirtschaftliches und soziales Fundament des geistigen Europas. Interessanterweise konnte man schon damals lesen, dass die Kooperation niemals nur auf die Wirtschaft beschränkt sein könne, im Gegenteil, dass Europa nur über die Mäßigung der Wirtschaft zum Geist gelangen könne und Europa eine Nation werden müsse. Ob Heinrich Mann oder Julien Benda, ob Stefan Zweig, Jacques Rivière oder Romain Rolland: sie alle sahen sich in der Tradition von Diderot, Voltaire oder Kant und Schiller, also in der Tradition von Aufklärung, Humanismus und Vernunft. Kurz, sie bekannten sich zum Kodex universalistisch-pazifistischer Werte der französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts ebenso wie der europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Anti-Nationalismus und ästhetische bzw. republikanische Erziehung zu Europa waren die Eckpfeiler des europäischen Geistes und des Weges zur europäischen Freiheit. Es ging in jener ‚Epoche des Widersinns‘ (Zweig) immer und immer wieder um europäische Bildung, um Kultur und Geist, um die stete Aufgabe, ja Verpflichtung der Intellektuellen, der Latenz nationaler Barbarei auf der anderen Seite des Kräftefeldes, den Ungeist, einzudämmen und zu bekämpfen. Stets wehrten die Intellektuellen sich gegen die Wahrung eigener, partikularer Interessen zu Lasten des Anderen. Die damaligen Schriften tragen Titel wie "Die moralische Entgiftung Europas" oder "Die Einigung Europas"; schon damals gab es einen "Appel aux Européens" (Zweig), so wie sie heute das Internet fluten und das dringende Bedürfnis, sich transnational zu organisieren.

Was waren die europäischen Vorschläge von damals? Ungezählte europäische Bewegungen versuchten in der Zeit, als die europäische Geschichte noch offen war, also zwischen 1945 und 1949, aus ihren Konzepten reale Politik zu machen. Exemplarisch hierfür mag die "Hertensteiner Programm der Europäischen Föderalisten" vom September 1946 gelten. Vorschläge, in ganz Europa ein Parlament mit Wahlrechtsgleichheit und Wahlkreisen mit einem Volksvertreter pro 1 Million Wählern zu wählen, lagen bereits damals auf dem Tisch.
Die damaligen Föderalisten, prominent z.B. Alexandre Marc oder Denis de Rougemont, standen in der Tradition der sogenannten "Personalisten", einer integralen föderalen europäischen Bewegung jenseits von Nationalstaaten: Es geht nicht darum, Staaten zu integrieren, sondern Menschen zu einen, sagte schon Jean Monnet.


Wo stehen wir heute mit Europa und wie kann und sollte die europäische Demokratie weiterentwickelt werden? Können wir Verschiebungen messen in dem, was sich vor allem die Jugend heute für ein geeintes Europa wünscht?

Wenn wir also heute eigentlich keine "Renationalisierung" erleiden, sondern erneut einen "Bürgerkrieg des Geistes" beklagen: wie können wir der heutigen europäischen Krise dann begegnen? Anders als damals? Wie können wir dem Ziel "ein Markt – eine Währung – eine Demokratie" näher kommen? Schaffen wir diesmal den Weg heraus aus der nationalen Spur? Gibt es moderne Konzepte der europäischen Föderierung, die an das anknüpfen, was damals schon gefordert und gewollt wurde, die aber - wie bereits erwähnt - trotz großer Fortschritte durch die EU immer noch nicht erreicht wurden? Und kann man messen, ob solche Konzepte eingefordert werden bzw. in der Bevölkerung Anklang finden?

Meine eigene jüngere Forschung galt der Frage, ob wir messen können, ob sich mit Blick auf Europa und was wir uns von Europa wünschen, die Einstellungen verschoben haben. Anders formuliert: kann man sagen, dass es heute eine – vor allem jüngere – Generation gibt, die tatsächlich Dinge fordert, die schon die Föderalisten der ersten Stunde gefordert haben, die aber dann in den Strukturen der EU letztlich keine Beachtung fanden?
Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich Ihnen kurz die Ergebnisse von zwei Studien vorstellen. Die eine habe ich 2015/16 mit Kollegen vom Wissenschaftszentrum Berlin durchgeführt; sie ist 2016 als Research Paper am WZB entstanden . Die andere ist eine laufende Studie, wo meine Kollegin, Elisabeth Donat und ich gerade in Zusammenarbeit mit der Linguistinnen der Universität Münster, einem Exzellenz-Cluster, ein Forschungsdesign entwerfen, in der Hoffnung, dass wir in den nächsten Monaten Drittmittel einwerben können, um diese Studie in einem größeren Rahmen hier an der DUK durchzuführen und dann darüber auch in den entsprechenden peer reviewed journals zu publizieren.

Zunächst also zum WZB:
Wir haben eine Studie gemacht, die zum Ziele hatte zu erforschen, ob neu gegründete europäische Think Tanks eine dezidiert andere Vorstellungen davonhaben, wie Europa heute organisiert sein sollte und ob sie andere politische Ziele mit Blick auf Europa verfolgen.
Beim Forschungsdesign haben wir junge europäische Think Tanks untersucht, also Think Tanks und europäische NGOs, die sich während der Eurokrise gegründet haben und die zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht älter als 10 Jahre waren. Wir haben eine kleine Gruppe von neuen Think Tanks gefunden – Rock the Union, PDU (Project for a Democratic Union), European Alternatives, European Democracy Lab etc.) und in einem ersten Schritt die verfügbaren Daten aus dem Internet über diese Gruppen zusammengetragen (Finanzierung, Akteure, biographische Daten, Alter, Aktivitäten, Publikationen). In einem zweiten Schritt haben wir dann mehrere qualitative Interviews geführt, bei denen wir semantische Analysen über verwendete Begriffe haben, die wir dann codiert und statistisch ausgewertet haben.

Wir haben die politischen Forderungen dieser neuen Think Tanks dann kontrastiert mit jenen Instituten, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden, und die sich für die europäische Integration stark gemacht haben, also zum Beispiel die deutsche DGP, das französische ifri, Chatham House oder auch das OIIP in Österreich, klassische Institute für internationale Beziehungen, die sich, je nach dem wann das einzelnen Land Mitglied der EU wurde, stets um europäische Integration bemüht haben. Und wir haben dabei auffällige Unterschiede gefunden, die für einen eindeutigen Paradigmenwechsel sprechen in der Art und Weise, wie Europa für diese jungen Think Tanks und Ihre Akteure aufgebaut sein sollte. Die semantische Analyse hat eine klare Verschiebung von Begriffen ergeben, mit denen heute über Europa diskutiert wird. Dabei am auffälligsten ist die Verschiebung bzw. der Übergang von "europäischer Integration" zu "europäischer Demokratie". Integration zu fordern, ist etwas ganz anderes, als Demokratie zu fordern. Wer Integration fordert, überantwortet die Integration den Nationalstaaten; wer europäische Demokratie fordert, hat diese als europäischer Bürger selbst in der Hand. Nationalstaaten begründen die "Vereinigten Staaten von Europa" – Bürger, wenn sie eine Demokratie anstreben, begründen eine Republik. Hinter der semantischen Verschiebung steht also ein Paradigmenwechsel. Dahinter liegt die Fragestellung verborgen, wer eigentlich in Europa der Souverän ist: die Staaten oder die Bürger?
Dementsprechend konnten wir feststellen, dass der Begriff European Citizenship bei den jungen Think Tanks und in ihren Publikationen stark vertreten ist, während er in Publikationen der älteren europäischen Think Tanks kaum vorkommt. Ähnlich geht es mit den Begriffen der economic governance (früher wurde vom Binnenmarkt gesprochen) oder auch social Europe – der in früheren Publikationen praktisch gar nicht vorkommt. Es lässt sich also durchaus empirisch feststellen und erhärten, dass es eine junge Genration gibt, deren Vorstellung davon, wie Europa institutionell verfasst sein sollte, durchgreifend verändert hat, und die letztlich genau das anstreben – nämlich eine Föderation jenseits von Nationalstaaten, bei der die europäischen Bürger gleich sind vor dem Recht – was die Föderalisten der ersten Stunde im Blick hatte, was die EU aber nie geboten hat.

Wir wollten dann erfragen, ob die verschiedenen Akteure dieser europapolitischen Think Tanks diese europolitischen Ziele teilen, ob sie ähnliche Ziele verfolgen, ob sie voneinander wissen bzw. sich kennen bzw. ggf. sogar kooperieren. Auch dies konnten wir nachweisen. (Chart Netzwerkanalyse) Die neuen, jungen europapolitischen Think Tanks sind über verschiedene, strategische Personen miteinander verbunden. Die Bündelung ihrer Ziele bewirkt einen verstärkten Resonanzboden und damit größere Wahrnehmung in den Medien. Sie begründen eine neue Diskurskoalition. Es lässt sich also wissenschaftlich bzw. empirisch erhärten, dass die Generationendynamik in der Europadiskussion zu einer Verschiebung der Diskurskoalition und die Verschiebung der Diskurskoalition zu einem Paradigmenwechsel geführt hat, welches Europa heute von der jüngeren Generation gewünscht wird. Es ist in der Tat so, dass der Paradigmenwechsel in den europapolitischen Forderungen dazu geführt hat, dass der pro-europäische Teil der jungen Generation sich für Dinge einsetzt – europäische Staatsbürgerschaft, Wahlrechtsgleichheit, eine Europäische Republik, freies Interrail, europäische Arbeitslosenversicherung – die nahe legen, dass eine europäische Föderierung auf der Grundlage der allgemeinen politischen Gleichheit aller europäischen Bürger jenseits von Nationen von ihnen akzeptiert würde – und damit natürlich dann gleichzeitig die politischen Voraussetzungen dafür gelegt werden, dass ein solches Europa – theoretisch wie praktisch – auch geschaffen werden könnte, eben weil Mehrheiten in der Bevölkerung dafür vorhanden und messbar sind.
Fairerweise muss man natürlich hinzufügen, dass die untersuchte Gruppe eben der pro-europäische Teil der Jungend ist –also die sogenannten Erasmus Generation, dass die nächsten Altersgruppen aber mit Blick auf ihre Zustimmung zu Europa generell gespalten ist und auch rechtspopulistische Parteien (vor allem in Frankeich, Polen und Ungarn) einen großen Zulauf erfahren. Dies war jedoch nicht unsere spezifische Forschungsfrage hier. Geht es jedoch um die Funktions- und Steuerungseliten der nächsten Generation, so kann man feststellen, dass sich ihr Europabild verändert hat.

Linguistik Münster/ die "Republik"

Kommen wir zur zweiten Studie, die hier an der DUK work in progress ist, an der Frau Dr. Donat und ich also derzeit arbeiten und hoffen, sie in größerem Rahmen durchführen zu können. Dabei wollen wir erfragen, ob der Begriff "Republik" emotional anschlussfähiger ist als der Begriff der "Vereinigten Staaten von Europa", also ob die Idee einer Europäischen Republik spontan mehr Zustimmung generiert, denn wir beklagen ja in der aktuellen Europadiskussion immer, dass die emotionale Komponente vernachlässigt wurde. Der Begriff der Republik bezieht sich immer auf die Bürger selbst und nicht auf Staaten: man kann an den beiden Symbolen, dem Symbol für die EU und dem Symbol für die Republik, das eigene ownership sehen (man findet sich in der Republik, die Republik ist nicht "da oben"). Damit wird, um den amerikanischen Linguisten George Lakoff zu zitieren, ein sogenannten "reframing" vorgenommen: über Sprache wird das normative Konzept verändert. Damit wiederum wird der Nachdenkraum vergrößert und emotionale Akzeptanz generiert. Und das konnten wir – in Vorstudien zumindest – bisher beweisen (vorbehaltlich einer großen, statistisch signifikanten Studie).
Wir haben die Republik also als "Einstellungsobjekt" genommen und emotionale Einstellungen zur Republik gemessen und ein sogenanntes "semantisches Differential" gemessen.
Kognitive, gefühlsbezogene und handlungsleitende Komponenten der "Republik"
Gefühle: gemessen durch semantisches Differential
Semantisches Differential: im Idealfall EPA-Struktur (Evaluation-Power-Activity)
Vorstudie Republik- gem. mit Universität Münster (Exzellenzcluster Politik und Religion)

Wie wir das gemacht haben, sehen sie hier: (Chart)

Deutschland (WWU Münster): 64 Teilnehmer
Niederlande: 19 Teilnehmer
Belgien: 26 Teilnehmer
Schriftliche Befragung mit mehreren Pretests
Nächste Schritte: face-to-face Befragung in Wien; repräsentative europaweite Befragung

Wir haben versucht, den Begriff der "Republik" von anderen Begriffen ähnlicher Natur abzugrenzen und auszutesten, ob er im politischen Sprachegebrauch besser geeignet wäre, um das Ziel einer europäischen Föderalisierung, einer politischen Union zu transportieren.
Die Frage war: Was passt zur Republik?
Belgien: Demokratie > Volk/Präsident > Parlament > Bürger
Niederlande: Volk > Präsident > Parlament > Demokratie > Bürger
Deutschland: Demokratie > Volk > Bürger > Parlament

Dann haben wir emotionale Eigenschaftspaare gebildet, um sie erforschen, welche Eigenschaften gefühlsmäßig und spontan auf den Begriff der Republik appliziert werden:
Man sieht an den Werten, dass es gelungen ist, relevante Gefühlsfaktoren herauszufinden, die mit der Republik assoziiert werden. Und siehe da, wir konnten tatsächlich eine große Aufgeschlossenheit gegenüber dem Begriff der Republik als Träger für eine die europäische Idee feststellen. Tatsächlich generiert der Begriff der Republik eine gefühlsmäßige Bejahung, die darauf schließen lässt, dass die Idee einer "Europäischen Republik" im realpolitischen Raum eine politische Wirkungsmächtigkeit mit großem Resonanzraum erzielen könnte, wenn er in die europapolitische Diskussion einbezogen würde – was er ja durchaus zum Teil schon ist.

Aufgeführt sind hier Eigenschaften einer Europäischen Republik, wie sie sich im semantischen Differential als relevant und geeignet erwiesen haben, den politischen Körper einer Europäischen Republik zu beschreiben.
Eine schöne, ansprechende, gemütliche, vertraute … usw. Republik – der ideale Lebensraum also ;-) Die drei Säulen könnten mit etwas Phantasie sogar der EPA-Struktur entsprechen: 1. Säule – Evaluation, 2. Säule – Potency, 3. Säule – Activity.

Wie statistisch signifikant dieser Zuspruch ist, müsste jetzt in größer angelegten Umfragen herausgefunden werden, zu denen wir hoffentlich bald sowohl das Geld als auch die Gelegenheit am DED haben werden. Diese auf der Ebene von Test oder Pilotstudien befindlichen Untersuchungen deuten jedoch eindeutig darauf hin, dass im Begriff der Europäischen Republik etwas zu suchen und zu finden ist, das einen neuen Zugang der Bürger, vor allem den Jugendlichen, zum europäischen Projekt im 21. Jahrhundert ermöglichen würde.
Der Paradigmenwechsel, der mit diesem Begriff einhergeht, das semantische "reframing" würde die europäischen Bürger, und nicht die Nationalstaaten in die Verantwortung für das europäische Projekt stellen. In Zeiten, in der eine Zivilgesellschaft immer lauter ihre Partizipation an der Gestaltung von Demokratie einfordert, wäre das wahrscheinlich eine günstige Bewegung: Republik bedeutet im Grunde nichts anderes als dass die europäischen Bürger gleich sind vor dem Recht – aequum ius – und zwar transnationale. Dies europaweit durchzusetzen und dafür einzutreten, wäre dann die historische Bewegung, in der wir stehen. Es geht um die normative Unterfütterung einer europäischen Staatsbürgerschaft und direkten materiellen Rechten, die sich aus einer solchen ergeben. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz wäre in Europa für alle Bürger verwirklicht, angefangen mit Wahlrechtsgleichheit, also "eine Person/ einen Stimme", ein Prinzip, was heute in der EU nicht gewährt ist. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz würde die Tür aufstoßen zu einer europäischen Demokratie, die ihren Namen verdient, und die mehr ist als eine weitgehend technokratische EU-Governance, die kaum jemand versteht. Die Souveränität läge beim Bürger und in Europa könnte in einem neugestalteten Parlamentarismus mit Zweikammer-System das Prinzip der Gewaltenteilung gelten, so wie wir es aus nationalen Demokratie-Kontexten kennen. Derart demokratisch aufgestellt, wäre den Rechtspopulisten gleichsam der Boden für die Kritik an Europa entzogen. Und wir müssten keine Befürchtungen haben, dass der augenblickliche nationalistische Sog Europa ein anderes Mal in den historischen Abgrund zieht. Wir hätten die Arbeit der europäischen Föderalisten der ersten Stunde ihrem Denken und Auftrag gemäß beendet und aus einem Markt und einer Währung endlich auch eine Demokratie gemacht.
Solange nachweislich der engagierte Teil der heutigen Jugendlichen in diese Richtung denkt – Zukunft ist immer, was die Jugend will – und solange der Republik-Begriff in der Bevölkerung diesen Teststudien zufolge offensichtlich Zustimmung generiert, wäre es auch falsch, derartiges Denken in das Reich der Utopie zu verweisen. Im Gegenteil, um mit Luhmann, mit dem ich begonnen habe, auch zu enden, könnte man so ggf. sicherstellen, dass die politische Realität in Europa nicht an der Wissenschaft vorbei läuft – und dass wir hier an der DUK und am DED unseren Beitrag dazu leisten, die derzeitigen europäischen Umbrüche als Stimme der europäischen Aufklärung angemessen zu begleiten!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!