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"Müssen den Konflikt selbst lösen"

Von Anja Stegmaier aus Kiew

Politik

Nach vier Jahren Krieg wünscht sich die ukrainische Jugend eine Zukunft in Frieden und Sicherheit.


Kiew. "Warum bist du nicht geblieben und kämpfst für dein Land? Und wenn du nicht für die Ukraine bist, wieso glaubst du, sollten wir dir hier helfen?" Roksana kennt diese Vorwürfe. Die 20-Jährige hat diese schon oft gehört und auch in Zeitungen gelesen. Der Konflikt in dem Land hat das Leben der Studentin stark verändert. Zum ersten Mal lebt sie alleine. In einer anderen Region mit einer anderen Sprache, Tradition und Mentalität.

Ursprünglich aus der Stadt Luhansk, die heute unter der Kontrolle der prorussischen Separatistenregierung steht, zog sie nach dem Ausbruch der Kämpfe 2014 nach Lemberg, um in Sicherheit weiter studieren zu können. Sie gehört damit laut dem Ukrainischen Sozialministerium zu rund 1,8 Millionen Ukrainern, die vor dem Konflikt im Osten des Landes und der Annexion der Krim aus ihrer Heimat geflohen sind. Einige haben Asyl in der EU beantragt oder sind nach Russland geflohen, doch die meisten suchen innerhalb des Landes Schutz.

Roksana bleibt diplomatisch: "Vielleicht liegt es daran, dass sich einige IDPs (Binnenflüchtlinge) nicht gut benehmen, sie sagen vielleicht zu Leuten ,rede Russisch mit mir‘ - das kommt natürlich nicht gut an."

OSZE will Dialog der Jugendim Land fördern

Dass Roksana selbst die Konsequenzen des Krieges in ihrem Land so hautnah miterlebt hat, war auch einer der Gründe dafür, bei der Jugendkontaktgruppe der PCU (Projektkoordinatoren in der Ukraine) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE mitzumachen. Die Hälfte der Repräsentanten der Gruppe stammt aus dem Osten des Landes, wie Roksana. Nach der Gründung 2015 sollten sich junge Ukrainerinnen und Ukrainer aus allen Regionen des Landes mit Ideen einbringen, wie Brücken gebaut werden können, um den Dialog im Land innerhalb der jungen Menschen zu fördern, um Vorurteile und Feindseligkeiten abzubauen und Verständigung und Versöhnung zu ermöglichen. In fünf Städten ist die Gruppe bereits aktiv, in Lemberg, Charkiv, Luhansk, Kiew und Donezk. Auch in Odessa soll es bald eine Gruppe geben.

Die Konfrontation mit Vorurteilen ist Alltag auch für Demyd. Steht im Pass ein Geburtsort, der im heutigen Separatistengebiet liegt, kann es etwa schwer werden, eine Wohnung im Westen des Landes zu bekommen. Wenn der 21-jährige in Lemberg erzählt, dass er aus Luhansk stammt, provoziert das nicht wenige. "Das ist aber ganz normal, dass sie glauben, dass die Leute im besetzten Teil selbst schuld an ihrer Lage sind. Viele haben das Regime unterstützt - aber viele eben auch nicht. Das muss man denen erst einmal erklären." Auch Demyd hat seine Familie verlassen, um in Lemberg in Sicherheit studieren zu können. Der Linguistikstudent ist von den Trainings der OSZE in Mediation und Konfliktlösung schwer begeistert. "Ich glaube, das Land und vor allem die Jugend muss begreifen, dass es nicht darum geht Recht zu haben oder die Schuld zu verteilen", er habe wie viele Verzweiflung, Leid, Enttäuschung und Tod gesehen. "Wir müssen uns fragen, wie wir das lösen können. Aktiv. Jeder einzelne muss sich fragen, was er selbst tun kann - das wollen wir den Leuten näherbringen."

Mittlerweile bietet die Jugendkontaktgruppe Kurse in Medienkompetenz, kritischem Denken und Menschenrechten an. Die Ideensammlung für neue Projekte läuft unentwegt. Obwohl die Gruppe offiziell erst kürzlich startete, hat die Facebook-Seite bereits über 700 likes. Vor allem das Projekt "Ukrainische Brücke" sticht bisher besonders hervor und geht heuer bereits in die dritte Runde, erklärt Demyd, der fast akzentfrei amerikanisches Englisch spricht und weitere sechs Fremdsprachen beherrscht. Er strahlt, wenn er von der einfachen, wie effektiven Idee erzählt. Junge Ukrainerinnen und Ukrainer können sich in ein Googleformular eintragen mit ihrem Skypenamen und ihrer Stadt. Dann wird gemischt und zugeteilt. Junge Leute aus den unterschiedlichsten Regionen haben sich in Folge via Skype kennengelernt, sich ausgetauscht oder gar getroffen und so neue Erkenntnisse gewonnen, die sie aus ihrer nächsten Umgebung nicht kannten.

Demyd erinnert sich an das Feedback der Teilnehmenden: "Viele Leute haben uns geschrieben und sich bedankt. Ihnen hat genau diese Kommunikation gefehlt, denn die Ukraine ist ein sehr großes Land und viele Menschen im Westen waren nie im Osten und umgekehrt oder kennen eben niemanden persönlich. Da gibt es natürlich viele Vorurteile und Klischees".

Auch Ulyana kennt das Problem der Vorurteile, die auch durch die Medien bestärkt werden. Die 26-Jährige hat ihre Heimatstadt Donezk samt Familie und Freunden verlassen und lebt heute weiter nördlich in Kramatorsk, das im Gebiet der ukrainischen Regierung liegt. In den Separatistengebieten werden ausschließlichen russische Medien konsumiert. Doch auf der Seite der Ukraine sind viele Informationen nicht weniger radikal. So wurden bis vor kurzem, die Unterstützer der selbsternannten Volksrepublik Donezk stets als Terroristen bezeichnet. "Als ich in Kiew lebte, fragten mich die Leute: Stimmt es wirklich, dass jeder im Osten Separatist ist und alle zu Russland gehören wollen? In der folgenden Diskussion habe ich gemerkt, dass die Leute rein gar nichts wissen über meine Region."

"Warte nicht auf Russlandund auf die EU"

Ulyana arbeitet hauptberuflich für die ukrainische NGO "Responsible Citizens" und organisiert Freizeitangebote für Kinder, die in der Kontaktlinie unter Beschuss leben und verteilt Medizin und Hygieneartikel an vornehmlich alte Menschen, die vereinsamt in Dörfern ausharren. "Die Leute wollen nicht nachdenken und hinterfragen - wir haben eine Kultur des schnell haben wollen. Fastfood und News. Man nimmt, was schnell geht und schmeckt."

Ulyana, Roksana und Demyd hat die Arbeit in der Kontaktgruppe den Glauben an eine Zukunft, an sich selbst und an ihr Land zurückgegeben. Demyd sieht den Konflikt als Chance, aus der Passivität herauszukommen. "Viele Ukrainer sind von der EU enttäuscht, sie haben geglaubt, die Union werde sie vor der Krise mit Russland retten."

Demyd will nicht resignieren. Er glaubt, dass es immer Optionen gibt: "Warte nicht auf Russland, warte nicht auf die EU - wir selbst haben die Verantwortung den Konflikt zu lösen." Auch Roksana wünscht sich, dass die ukrainische Jugend sich mehr einbringt, die Zukunft des Landes zu gestalten. Die ältere Generation habe ihre Jugend in der UdSSR verbracht und sehne diese Zeit zurück - die Jungen hingegen sind in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen. "Wir Jungen sind die Zukunft, wir werden in diesem Land leben müssen und da sollten vielmehr wir entscheiden, in welche Richtung das Land geht und was getan werden muss." Auch Demyd wünscht sich für die Zukunft, dass sich die Jugend mehr am sozialen Leben beteiligt und an ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial glaubt, etwas verändern zu können. "Leider hat es sich in der Politik nicht durchgesetzt, dass die Zukunft eines Landes in den Händen der Jungen liegt. Aber das bedeutet eben auch, dass man Macht abgeben muss und ersetzbar ist - und das will keiner akzeptieren", sagt Demyd und grinst.