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"56 Jahre SPD - ich bleib standhaft"

Von Christine Zeiner aus Nordrhein-Westfalen

Politik

In Nordrhein-Westfalen kämpft Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) um ihre Wiederwahl. Eine Reportage.


Die vermeintliche No-Go-Area in Essen sieht freundlich aus. Die Sonne strahlt auf zwei Spielhallen. Auf Läden, in denen glitzernde Abendkleider angeboten werden. Auf den afrikanischen Supermarkt. Offiziell zählt das Viertel zu den "gefährlichen bzw. verrufenen Orten" Nordrhein-Westfalens. Etwas mehr als 20 solcher Orte listete die rot-grüne Landesregierung kürzlich für das ganze Bundesland auf. Es gebe in Nordrhein-Westfalen jedoch keine Viertel, in die sich die Polizei nicht hineintraue, betonen Polizei und Innenministerium. Die Christdemokraten sprechen dennoch von "No-Go-Areas".

Streit um "No-Go-Areas"

Am Sonntag wählt das "NRW" genannte Bundesland einen neuen Landtag. Und das Thema Sicherheit eignet sich hervorragend für den Wahlkampf: zu viele Einbrüche, zu viele Überfälle, zu viel Bandenkriminalität, eine große Islamisten-Szene, die Übergriffe in der Silvester-Nacht 2015/2016 in Köln und schließlich Anis Amri, der eine zeitlang in NRW gelebt hatte, bevor er im Dezember einen Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt fuhr. Auch außerhalb der CDU machen viele Innenminister Ralf Jäger (SPD) für all das verantwortlich.

"Man kann Herrn Jäger nicht einen Garant für innere Sicherheit nennen. Wir dulden keine No-Go-Areas in NRW!", ruft Armin Laschet in Bonn. Der Christdemokrat würde gern Ministerpräsident werden. Ein Fünftel aller Wähler Deutschlands lebt in Nordrhein-Westfalen. Das gibt NRW großes Gewicht. Laut Umfragen liegt die CDU fast gleichauf mit der SPD von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.

Bundeskanzlerin Angela Merkel legt sich für ihren Vertrauten Laschet ins Zeug und tritt mehrfach im NRW-Wahlkampf auf. Merkel ist nach Bad Godesberg gekommen, einen nobelen Stadtteil des gediegenen Bonn. Die Stadthalle liegt im Kurpark, umgeben von Villen. Auch Merkel kommt auf das Sicherheitsthema zu sprechen. Sie federt ab, was ihr auch innerhalb der Partei viel Kritik brachte: Vor knapp zwei Jahren entschied sie, Flüchtlinge unregistriert ins Land zu lassen.

"Tolles Stück Bundesrepublik"

Merkel geht offensiv mit dem Thema um. Der Herbst 2015 sei eine "Bewährungsprobe" gewesen, man habe das alles dank der vielen haupt- und ehrenamtlichen Helfer geschafft, sagt sie in Bonn. "Wir können stolz darauf sein, wie wir das hinbekommen haben. Das war ein tolles Stück Bundesrepublik." Die, die nun nicht bleiben könnten, müssten rasch zurückgeschickt werden "mit einer Starthilfe vielleicht". Die anderen müssten "sich integrieren, sich in unsere Strukturen einbringen".

Die Stimmung in Bonn ist gut. Immer wieder wird laut gelacht - Merkel neigt ja durchaus zur Flapsigkeit. Und natürlich punktet sie damit, Bonn als "ein Stück Heimat" zu benennen. Unter dem konservativen Kanzler und gebürtigen Kölner Konrad Adenauer wurde Bonn 1949 Hauptstadt der BRD. Bis 1999 blieb Bonn Sitz der Bundesregierung; Merkel war Frauen- und Jugend-, dann Umweltministerin.

Immer noch wird Bonn als spießig, provinziell, verschnarcht beschrieben. Daran ändert auch der Sitz zweier Dax-Unternehmen - Telekom und Post - wenig. Gleichzeitig zählt Bonn zu den am höchsten verschuldeten Städten Deutschlands. Das liege in erster Linie daran, dass sich die Stadt eine Infrastruktur wie zu Hauptstadtzeiten leiste, so Bärbel Richter, SPD-Klubchefin im Bonner Rathaus und dort in Opposition.

Im Ruhrgebiet kämpft man dagegen mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel. Nur eine kurze Bahnfahrt liegt der Pott von Bonn und Köln entfernt. Überhaupt befinden sich viele Städte in NRW nah beieinander - umso stärker aber heben sie ihre Unterschiede hervor. Der Kölner ("weltoffen, tolerant, immer jut drupp, dat Herz am rechten Fleck") will mit dem Düsseldorfer ("eitel", "schreckliches Altbier") nichts zu tun haben, der Dortmunder Fußballfan nichts mit Gelsenkirchen und Schalke. Und Wuppertal sollte man tunlichst nicht im Ruhrgebiet verorten - eine Stadt, in der einst die Textilindustrie groß war, berühmt für seine Schwebebahn und das Tanztheater Pina Bausch. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Aber seit ein paar Jahren wächst die Zahl der Einwohner wieder. Es zieht Studenten und Start-ups hierher, die gern in der Nähe von Köln wohnen, sich aber die Stadt nicht mehr leisten können.

Im Pott versucht man es mit Kultur und Tourismus: Das Ruhrgebiet, im Zweiten Weltkrieg völlig zerbombt, macht der Niedergang von Kohle und Stahl zu schaffen und in Folge enorme Arbeitslosigkeit und hohe Schulden. Aus Zechen wurden Museen; Jobs bringen diese aber kaum. Die Bahnhöfe sehen trist aus, in vielen Einkaufsstraßen sperren Geschäfte zu. Es gibt Ein-Euro-Shops, Döner-Läden, Wettbüros. Der ehemalige Bergarbeiter Guido Reil ist nach 26 Jahren aus der SPD aus- und in die rechtspopulistische AfD eingetreten. Die SPD sei keine Partei "der kleinen Leute" mehr, sagt er. Und dass auch der verarmte Pott tausende Geflüchtete aufgenommen habe, findet Reil alles andere als gut.

"Gerade Deutschland muss doch weltoffen sein", sagt eine 77-Jährige, die "immer schon" SPD gewählt habe. Eine Woche vor der Wahl ist in der Ruhrgebietsstadt Mülheim die Hölle los. Die SPD hat die große Einkaufsstraße, die Schloßstraße, in "Rote Meile" umbenannt. Alle paar Meter steht ein Stand, auch CDU, Grüne, AfD und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands sind präsent. "56 Jahre SPD", sagt eine Frau, "ich bleib standhaft". Die Hannelore, die sei eine von ihnen, eine tolle Frau - und so bodenständig, schwärmt sie.

In Mühlheim hat Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ein Heimspiel. Gemeinsam mit Kanzlerkandidat Martin Schulz verteilt die gebürtige Mülheimerin Rosen. Schulz beschwört in seiner Rede die soziale Gerechtigkeit - sein Thema für den Bundeswahlkampf.

"Die SPD hat in NRW ein Selbstverständnis wie die CSU in Bayern: eine Art Fast-Gott-Status", sagt ein Mann. Kürzlich ist er aus der SPD ausgetreten. Er nehme es der Partei nicht mehr ab, an den "Problemen der Bevölkerung dran zu sein". Und man müsse doch aussprechen dürfen, wenn etwas schief laufe, sagt er. Man könne nicht schön reden, wenn Mitbürger nach vielen Jahren in Deutschland immer noch nicht den Vorteil von Demokratie und Gewaltenteilung sehen würden. Wählen gehen werde er trotzdem. Die AfD sei für ihn - wie er sagt - selbstverständlich keine Option. "Frustriert dann eben irgendeine Kleinstpartei. Die Großen sind alle eine Enttäuschung."

Martin Schulz schüttelt derweil dutzende Hände. Eine Frau wünscht ihm alles Gute. "Danke", antwortet Schulz. "Kann ich gut gebrauchen."