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Der IS liefert nur die Zündschnur

Von Michael Schmölzer

Politik

Woher kommt die blinde Wut, die Menschen zu alles zerstörenden Bomben werden lässt? | Das Beispiel Großbritannien zeigt, wie der Abbau zivilisatorischer Errungenschaften zu Hass führt.


Wien. Der Islamische Staat (IS) verzeichnet erschreckend viele Neuzugänge in Europa. Zuletzt in Großbritannien - und in Frankreich, wo ein 40 Jahre alter Informatiker vor der Pariser Kathedrale Notre Dame mit dem Ruf "Das ist für Syrien!" einen Polizisten attackiert hat. Farid I., so der Name des Mannes, hat sich zum IS bekannt, ebenso der Italo-Marokkaner Youssef Z., der als dritter Attentäter des jüngsten blutigen Anschlags von London identifiziert wurde und sich durch Internet-Propaganda radikalisiert haben soll.

Der Terror in Europa hat dieser Tage viele Gesichter: polizeibekannte Kleinkriminelle, psychisch Labile, minderjährige Mädchen, Doktoranden. Von Mitgliedern einer strukturierten Terrororganisation kann keine Rede sein, der IS ist nicht wählerisch, wenn es um seine Jünger geht. Überall, so scheint es, lauern versteckte Zeitbomben, die jederzeit hochgehen können.

Tatsache ist, dass der IS in Syrien und im Irak mit dem Rücken zur Wand steht und sich am Westen rächen will, indem er den Krieg nach Europa trägt. Mossul ist so gut wie gefallen, die IS- Hochburg Rakka wird sich wohl nicht mehr allzu lange halten können. Die Islamisten schicken aber nicht ihre besten Kämpfer nach Europa, vielmehr verbreiten sie totalitäre Hasspropaganda im Internet - und bekommen dabei großen Zuspruch. Das ist nach den Passagierjets von 9/11 die neue Waffe der Fanatiker. Terrorexperten rechnen damit, dass sie ihre tödliche Effizienz weiter ausbauen werden.

Immer öfter taucht nun die Frage auf, ob es tatsächlich der IS allein ist, der den Terror nach Europa trägt. Oder ist der Terror, der sich vor unser aller Augen in London, Manchester, Paris und Berlin entfaltet, hausgemacht?

Der IS, so analysiert die "Süddeutsche Zeitung", ist in erster Linie ein Label. Die Terrororganisation gibt einem komplexen Phänomen einen Namen. Doch wo kommen die Kränkungen und die blinde Wut her, die die Attentäter zur Waffe greifen lassen - sei es ein Hammer, ein Sprengstoffgürtel oder das Lenkrad eines Lkw?

Der Hass muss in langen Jahren aufgebaut werden. Fast alle, die für die jüngsten Terroranschläge verantwortlich sind, wurden in Europa geboren oder sind zumindest hier aufgewachsen oder haben lange Zeit hier gelebt. Was, wenn der IS nichts weiter ist als die Zündschnur für Menschen, die schon als willige Werkzeuge "präpariert" sind?

Kommt das Böse von außen?

Das Gewaltniveau steigt stetig. Europa, so heißt es, werde künftig damit leben müssen. Dass das Böse nicht nur von außen kommt, sondern dass Faktoren wie abnehmende soziale Gerechtigkeit, Zurückweisungen oder Integrationsdefizite eine Rolle spielen, wird verschwiegen.

Dass der Westen Mitverantwortung an der Misere trägt, ist am Beispiel Großbritannien gut nachvollziehbar, wo am Donnerstag gewählt wurde. Die Insel war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Musterland des sozialen Zusammenhalts - das wurde weder von Labour noch von den Tories bestritten. Prinzipien wie Gewaltfreiheit und Toleranz wurden hochgehalten, die sozialen Gegensätze sollten verringert werden. Der britische Bobby war als Ausdruck eines Gewalttabus natürlich unbewaffnet.

Die 1950er und 1960er Jahre waren die Zeit des sozialen Wohnbaus, es wurde günstiger Wohnraum für Hunderttausende allein in London geschaffen. Eine Errungenschaft, die dann von Premierministerin Margaret Thatcher demontiert wurde. Thatcher wollte, dass diese Wohnungen käuflich erwerbbar sind. Mit dem Effekt, dass sie bald um einen weit höheren, für viele unerschwinglichen Mietpreis auf dem Markt waren. Zusätzlicher, von der öffentlichen Hand finanzierter Wohnbau findet derzeit kaum statt. Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften durch Thatcher hat "New Labour" unter Tony Blair und Kurzzeit-Premier Gordon Brown wenig getan, um das Los der Arbeiter zu verbessern.

Großbritannien ist es einst gelungen, eine Million indischer Immigranten gut zu integrieren. Menschen aus Pakistan bekamen die Chance, sich als Geschäftstreibende zu etablieren, viele haben in Großbritannien studiert. Menschen mit indischen Wurzeln sind überall im öffentlichen Dienst gut vertreten. Hier ist der Ort, wo der Polizist Turban tragen darf, Rassismus war verpönt. Zuletzt ist mit Sadiq Khan ein Sohn muslimischer Immigranten Bürgermeister von London geworden.

Doch Freizügigkeit und Toleranz machen sich rar. Überall steigen Ablehnung und Aggression. Theresa May will Einwanderung stoppen, um die britische Identität zu schützen. Osteuropäer, die nach der EU-Erweiterung in Scharen willkommen geheißen wurden, sollen heimgeschickt werden. Die Brexit-Abstimmung im Juni des vergangenen Jahres ist klares Indiz dafür, dass man sich als Insel wieder abschotten, seinen eigenen Weg gehen will.

Dass die soziale Ungleichheit wächst, zeigt sich am Gesundheitswesen. Dem staatlichen Gesundheitsdienst NHS droht der Kollaps. Der Chef des Britischen Roten Kreuzes, Mike Adamson, spricht sogar von einer "humanitären Krise". Schwerkranke liegen tagelang auf Klinikgängen, weil kein Zimmer frei ist. Krebspatienten müssen Monate auf ihre Operation warten, Pfleger sind unterbezahlt.

Die Saat geht auf

Laut Studie der unabhängigen Joseph-Rowntree-Stiftung in New York ist die Armut unter britischen Arbeitnehmern dramatisch gestiegen. 3,8 Millionen Beschäftigten bleibt zu wenig Geld zum Leben. Grund für die Armut sind vor allem gestiegene Mieten. Insgesamt leben 13,5 Millionen Menschen landesweit in Armut, etwa ein Fünftel der Bevölkerung.

2011 brachen dann alle Dämme: Randalierende Jugendliche, oft waren es Kinder, versetzten London und andere Städte in Angst und Schrecken. Wohnhäuser, Geschäfte, ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf. Geplündert wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war. Die Rede war von einem "Aufstand der Frustrierten", man habe so etwas seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt. Es wurde nach den Ursachen geforscht. Das Gefälle zwischen Arm und Reich werde immer größer, hieß es, ethnische Minderheiten fühlten sich gezielt schikaniert. Eine ganze Generation würde sich als Verlierer fühlen. Der damalige Premier David Cameron drohte den Randalierern mit der gnadenlosen "Kraft des Gesetzes". Das war es.

Dass die Art und Weise, wie der Islam von vielen Muslimen gelebt wird, ein Problem darstellt, ist unbestritten. Dass in den meisten Staaten des Nahen Ostens ein Gewalttabu, wie wir es kennen, fehlt, ebenso. Dass die Grundlage des Terrors zum Teil hausgemacht ist, ist aber schwer von der Hand zu weisen.