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Der zerplatzte Traum vom freien Kurdistan

Von Eva Reisinger

Politik

Durch Friedensgespräche mit der Türkei schöpften viele Kurden Hoffnung. Heute ist das Land tiefer gespalten denn je.


Diyarbakir. Um fünf Uhr am Morgen des 16. März 2016 stürmt die türkische Spezialeinheit für Terrorismusbekämpfung Ramazan Demirs Wohnung. Er liegt in seinem Bett und schläft. Männer mit Sturmmasken und Maschinengewehren wecken ihn. Kurz glaubt er, zu träumen.

Demir kann sich an jedes Detail erinnern, wenn er heute davon erzählt. Warum die Polizei Demir verhaftete, hat einen offiziellen und einen inoffiziellen Grund. Offiziell bestand der Verdacht auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Inoffiziell liegt der Grund woanders. Demir ist Kurde und arbeitet als Menschenrechtsanwalt in Istanbul. Geht es nach dem Anwalt, wurden die Ausgangssperren in den Kurdengebieten im Südosten des Landes im Winter 2015 gezielt dazu missbraucht, um Kurden zu foltern, zu töten und ihnen den Zugang zu medizinischer Hilfe zu verweigern.

Sie wurden in ihren Kellern ausgeräuchert und hingerichtet wie unter den Nationalsozialisten." Ein internationaler Bericht des UNO-Menschenrechtshochkommissariats bestätigt nun erstmals maßgebliche Verletzungen der Menschenrechte in vielen kurdischen Städten. Demnach seien zwischen 355.000 und 500.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben und 2000 Menschen bei Einsätzen der Regierungskräfte getötet worden.

Gegen einige dieser Verbrechen reichte Ramazan Demir Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Unter anderem, dass Ärzten in der südostanatolischen Stadt Cizre der Zugang zu verletzen Zivilisten verwehrt wurde. Daraufhin forderte der EGMR die türkischen Behörden auf, Ärzte augenblicklich in die abgeriegelten Gebiete zu lassen. Aus juristischer Sicht war diese Maßnahme für den Anwalt ein großer Erfolg. Ab diesem Zeitpunkt begann aber die Polizei, gegen ihn zu ermitteln.

Gefoltert wird weiter

Dass Demir aufgrund seiner juristischen Tätigkeit eingesperrt wurde, kann man ohne den Zugang zu Polizeiprotokollen nicht beweisen, gilt aber als wahrscheinlich. Auch Clemens Lahner, Rechtsanwalt für Menschenrechte in Wien, sieht das ähnlich: "Für die Türkei war die vorläufige Maßnahme des EGMR eine Ohrfeige. Sie machte öffentlich, dass die Türkei bei ihrem angeblichen Kampf gegen den Terrorismus Menschenrechte verletzt."

Demirs Kanzlei liegt in einer Seitenstraße der Haupteinkaufsstraße Istiklal in Istanbul. Von draußen tönt die Musik eines Straßenmusikers herein. Demir trinkt türkischen Tee und spielt mit einem schwarzen Gebetskranz, als er von seiner Haft erzählt. 154 Tage verbrachte er schlussendlich im Gefängnis in Istanbul. Bis er von Bombenanschlägen auf seine Heimatstadt in Südostanatolien im Radio hörte. "Ich konnte nichts anderes tun, als mich auf die Namen der Toten zu konzentrieren." Viele waren Nachbarn und Freunde. Ob seine Familie noch am Leben war, wusste Demir zu diesem Zeitpunkt nicht. Im September 2016 wurde er vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Mit zwölf Kilo weniger auf den Rippen reiste er zu seiner Familie nach Sirnak an der Grenze zu Irak und Syrien.

Als Demir in den Trümmern seiner Heimat steht, kann er sein eigenes Haus nicht mehr finden. Nichts ist mehr übrig außer Haufen voller Schutt, Kleiderfetzen und Scherben, der Wind weht Staub durch die Luft, als Demir ein Schulheft mit dem Namen seiner Schwester findet. Er macht ein Foto und stellt es auf Twitter. Es wird fast 3000 Mal geteilt. Man müsse die kurdischen Städte im Südosten der Türkei selbst besuchen, um den Konflikt zwischen Kurden und der Türkei zu verstehen, betont er. "Du kannst in der Luft fühlen, dass du jederzeit erschossen werden könntest." In vielen Städten werden auch heute noch, fast ein Jahr später, Ausgangssperren verhängt, Menschen gefoltert, ermordet oder ganze Städte von der Elektrizität abgeschnitten.

Demir wird nach wie vor verdächtigt, ein Terrorist zu sein. Obwohl sein Gesicht in den türkischen Medien mit dem Stempel "Terrorist" verbreitet wird und sein Verfahren längst nicht abgeschlossen ist, denkt er nicht ans Aufhören. "Ich habe keine Angst, wieder eingesperrt zu werden, aber ich fürchte mich, erschossen zu werden", meint der Menschenrechtsanwalt ernst. Er blickt bedrückt auf die Tastatur seines Computers und startet das Lied "Born To Die" von Lana del Rey. Zu viel Dramatik, selbst für ihn - er muss lachen.

"Fühle mich nicht mehr sicher"

Auch Nesrin Yildiz (Name von der Redaktion geeändert) ist Anwältin und Kurdin. "Ich bin eine Kurdin aus der oberen Mittelschicht Istanbuls und damit eine Exotin", erklärt die 30-Jährige in einem Café in einem hippen Stadtviertel Istanbuls. Sie hat ein rundes Gesicht und dunkle Haare, die sich in viele Locken kräuseln. In ihrer Familie wurde die kurdische Herkunft zwar thematisiert, aber nie in den Vordergrund gestellt. "Ich hörte oft nett gemeinte Sprüche von Schulkollegen oder Freunden, wie: ,Du bist doch zu schön oder zu schlau, um Kurdin zu sein‘." Eine Schulstunde hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Zu dem Fach "Nationale Sicherheit" kam ein Soldat in die Schule. Er zeigte den Schülern eine türkische Landkarte und sagte: "Die Kurden, Armenier und Griechen werden kommen, um unser Land zu nehmen und uns Türken zu ermorden, vergesst das nie." Ab diesem Zeitpunkt erkannte Yildiz, dass sie niemandem erzählen sollte, dass sie Kurdin ist. Als Kurdin, Frau und Anwältin fühlt sich Yildiz heute, wie sie es formuliert, ganz oben auf der Abschussliste der Türkei. "Ich war in den 1980er und 90er Jahren noch ein Kind, kann also keinen Vergleich ziehen, ob die Situation für uns Kurden schlimmer oder besser ist. Ich persönlich fühle mich aber erstmals wirklich unsicher in meinem Land."

Als Kurde lebt man gefährlich: Studentin Heja Turk wird verdächtigt, PKK-Mitglied zu sein. Anwalt Ramazan Demir saß wegen seiner Klage vor dem EGMR bereits in Haft, Cihad Ilbas demonstriert.
© Reisinger

"Der Konflikt zwischen Kurden und dem Staat ist an sich kein neuer. Bereits während des Türkischen Unabhängigkeitskriegs zwischen 1919 und 1923 überzeugte Mustafa Kemal Atatürk die Kurden, auf seiner Seite zu kämpfen. Er versprach ihnen dafür Autonomie. Als im Juli 1923 der Vertrag von Lausanne unterschrieben wurde, revidierte Atatürk seine Zugeständnisse. Durch den Vertrag bekam die Türkei ihre völkerrechtliche Anerkennung. Die Siedlungsgebiete der Kurden wurden aber einfach unter der Türkei, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Ab diesem Zeitpunkt forcierte Ankara eine massive Assimilierungspolitik und strich "Kurdistan" einfach von der Landkarte. Seither wird brutal gegen religiöse und ethnische Minderheiten in der Türkei vorgegangen. Denn auch wenn Recep Tayyip Erdogan, der 2003 Premierminister wurde, den Säkularismus schrittweise abschaffte, blieb doch das Modell eines starken Nationalstaates mit ausgeprägtem Patriotismus bestehen. Dazu passten die kurdisch definierten Bewegungen wiederum nicht.

Erdogan als Hoffnungsträger

2013 wirkte dann allerdings alles so, als würden die Kurden in der Türkei endlich demokratisch vertreten werden. Erdogan stimmte einer Waffenruhe mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu und startete erstmals Friedensgespräche. Zwei Jahre später zog die prokurdische Partei HDP mit 12,7 Prozent ins Parlament ein. Erdogan erweckte dadurch Hoffnungen bei vielen Kurden. Als die HDP-Wähler dann die AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2016 die absolute Mehrheit kosteten, erklärte er die Friedensgespräche für beendet und ging wieder härter gegen die Kurden vor. Beim umstrittenen Verfassungsreferendum Mitte April stimmten 51,3 Prozent der Türken mit "Ja" und damit für eine massive Ausweitung der Machtbefugnisse für Erdogan.

Die türkische Opposition und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) orteten Wahlmanipulationen. So sollen in der Kurdenmetropole Diyarbakir Wahlbeobachter der HDP und der sozialdemokratischen CHP von der Polizei einfach abgeführt und erst nach der Schließung der Abstimmung wieder freigelassen worden sein.

Sieht man sich die Ergebnisse des Referendums auf der türkischen Landkarte genauer an, wird klar, wie gespalten das Land ist. In den großen Städten, genauso wie in der Ägäis-, Mittelmeerregion und Südostanatolien, wo besonders viele Kurden leben, erreichte Erdogan keine Mehrheit. In Zentralanatolien bis hinauf zur Schwarzmeerregion stimmten hingegen die meisten mit "Ja".

Die türkische Politik ist kompliziert und manchmal schwer zu durchschauen, denn auch das Verhältnis der Kurden zum Staat ist wiederum kein homogenes. So wählte ein gar nicht so kleiner Anteil der Kurden in der Vergangenheit Erdogans AKP. Nicht umsonst schmückte sich der Präsident einmal mit der Aussage, er sei der eigentliche Vertreter der Kurden. Manche wählen Erdogan aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs, der in seiner Zeit als Premier auf einmal auch bisher vergessene Regionen erreicht hat, andere aufgrund ihrer Abneigung und Angst gegenüber der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, andere, um eine Proteststimme gegen die Kemalisten abzugeben. Die Angst vor Gewalt und Terror im Land schien die Motivation vieler Wähler gewesen zu sein, für Erdogan und ein "Ja" beim Referendum zu stimmen. Auch unter Kurden. Denn er versprach ihnen Frieden und Stabilität.

Seit dem Ende der Friedensverhandlungen antwortet die verbotene PKK verstärkt mit Angriffen auf Polizei und Militär. Wie zuletzt im Dezember durch eine Splittergruppe der PKK, genannt TAK, die eine Bombe vor dem Stadion in Istanbul zündete und 38 Menschen tötete sowie 155 verletzte. Die PKK distanziert sich wiederum von der TAK. In Europa wird die PKK als terroristische Organisation eingestuft, genauso wie auch der "Islamische Staat". Das Ziel der PKK ist je nach Interpretation die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates oder ein autonomes Kurdistan innerhalb der Staatsgrenzen. Viele Kurden sehen die PKK darum nicht als eine terroristische Organisation, sondern als den einzig noch möglichen Überlebenskampf.

Eine gefährliche Frage

Auf die Frage wie Yildiz zur PKK stehe, beginnt sie zu flüstern. Das sei derzeit die gefährlichste Frage in der ganzen Türkei, betont sie. Allein darüber zu sprechen, könnte uns ins Gefängnis bringen. "Ich verurteile Gewalt und Krieg grundsätzlich auch im Bezug auf die PKK. Aber wir befinden uns im Krieg. Wir können uns keinen Frieden leisten", sagt Yildiz schließlich unter der Bedingung, in diesem Bericht anonymisiert zu werden. Auch Clemens Lahner denkt, es sei der falsche Weg, die PKK als terroristische Organisation abzustempeln. "In einer funktionierenden Demokratie hat man viele Möglichkeiten, für seine Rechte zu kämpfen: Man kann wählen, sich politisch engagieren und demonstrieren. Wenn aber alle Politiker der gewählten Partei eingesperrt und bedroht werden, stellt sich irgendwann die Frage, ob es legitim wird, zur Waffe zu greifen."

Für Cengiz Günay, Türkei-Experte am Österreichischen Institut für Internationale Politik, ist die PKK klar eine terroristische Organisation: "Auf beiden Seiten, sowohl auf der der Regierung als auch der PKK haben die Falken Gewicht bekommen. Sie sehen derzeit einen größeren Gewinn darin, sich zu bekämpfen, als einen Dialog zu suchen." Eine Einteilung in den bösen türkischen Staat auf der einen Seite und die PKK als eine Freiheitsbewegung auf der anderen würde die Realität verkürzen. Günay warnt vor einer Romantisierung der PKK als Guerillatrupp. Es gebe Berichte von Aussteigern, die zeigen würden, wie gewalttätig es auch innerhalb der PKK zugehe. Zudem nehme die PKK zivile Opfer in Kauf und bediene sich somit terroristischer Methoden, resümiert der Experte.

Auch Heja Turk wird verdächtigt, ein Mitglied der PKK zu sein: "Die Anschuldigungen gegen mich sind immens. Sie werfen mir vor, eine Selbstmordattentäterin zu sein und mich in Istanbul in die Luft sprengen zu wollen", sagt die 28-Jährige mit den schwarzen Locken, deren große Augen mit Kajal umrundet sind.

Turk studiert Englisch und Literatur an der angesehen Bogazici Universität in Istanbul und möchte am liebsten Schauspielerin werden. Ihr Großvater, Ahmet Turk, ist ein berühmter HDP-Politiker und ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt Mardin an der Grenze zu Syrien. Er wurde, wie viele andere kurdische Bürgermeister, abgesetzt und inhaftiert. Auch Turk war lange politisch aktiv, bis sie einen Studienplatz an der Columbia Universität in New York bekam. Um keine Probleme mit dem Staat zu bekommen, mied Turk ab diesem Zeitpunkt Demonstrationen.

Dass sie trotzdem massive Probleme bekommt, hat mit einem leeren Zimmer in ihrer Wohnung zu tun. Auf der Plattform AirBnb vermietet sie es im Herbst 2015 an eine junge Frau namens Sinem Oguz. "Sie war sehr ruhig, wir haben uns nicht oft gesehen" erinnert Turk sich heute. Bis am 27. Jänner Helikopter über ihrer Universität kreisen und die Polizei ein Auto konfisziert, in dem eine Bombe gewesen sein soll. Turk, einige Freunde sowie Oguz - insgesamt 14 Menschen - werden festgenommen und verdächtigt, Mitglieder der PKK zu sein. Turks Anwalt betont, dass es keine Beweise im Bezug auf die Bombe und ihre Kooperation gebe. Auch Turk beteuert ihre Unschuld und die Tatsache, dass sie dieses Auto noch nie zuvor gesehen habe. Da ein Verfahren gegen die Studentin läuft, kann sie das Land derzeit nicht verlassen. Die Columbia Universität sagt ihr ihren Platz weiterhin zu, erzählt die Studentin. Turk drohen bis zu 24 Jahre Haft.

Kurz vor dem Ausbruch

"Es genügt heute, Kurdin zu sein, um eingesperrt zu werden", meint der 26-jährige Cihad Ilbas. Er sitzt neben Heja Turk in einer Rooftop-Bar nahe dem Taksim-Platz. "Ich will nichts romantisieren. Ich bin Kurde, wie ein Schwede Schwede ist. Wir müssen aber politisch aktiv sein, um leben zu können." Natürlich würde er sich am liebsten keine Gedanken über seine Identität machen müssen und für die Rechte von Homosexuellen oder den Umweltschutz kämpfen. Ja manchmal könne er kaum glauben, dass sie immer noch für den selben Blödsinn demonstrieren würden, meint er niedergeschlagen. Und trotzdem hat er Hoffnung. Genauso wie auch Demir, Turk und Yildiz. Bald werde sich etwas ändern. Darüber sind sich alle einig.

Wie die Türkei in Zukunft mit der Kurdenfrage umgehen wird, ist stark an die Situation in Syrien gekoppelt - und somit auch an Europa. Zu lange behandelt Europa die Türkei wie ein rohes Ei. Die Angst, der Flüchtlingsdeal könnte platzen, schien vorrangig.

In Wahrheit befindet sich die Türkei mittlerweile aber selbst an einem Scheidepunkt. Am ehesten lasse sich das mit dem Bild eines Druckkochtopfs erklären, meint Clemens Lahner dazu: "Es köchelt gewaltig. Die Frage ist nur, ob noch tausende Menschen sterben müssen, bevor er explodiert." Auch die Kurden radikalisieren sich zunehmend. Zu groß sind die Verzweiflung und die Aussichtslosigkeit über ihre Lage, die sich seit Jahrzehnten nicht verbessert hat.

Auf Dauer wird Erdogan die Kurden, die fast ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, nicht mehr unterdrücken können. Irgendwann wird ein Dialog auf beiden Seiten wieder forciert werden und die kurdische Identität offiziell anerkannt werden müssen. Es bleibt offen, auf welchen Weg das passieren wird und wie viele Menschen dabei noch sterben müssen. Bald wird ihr Volk seine Rechte endlich bekommen, ist sich auch Turk sicher. "Auf dem einen oder eben auf dem anderen Weg", sagt sie zum Abschied.