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Frankreichs "fröhliche Apokalypse"

Von WZ-Korrespondentin Judith Kormann

Politik

Der Soziologe Louis Chauvel im Gespräch über die Politikverdrossenheit der französischen Jugend.


"Wiener Zeitung": Nur 26 Prozent der Franzosen zwischen 18 und 24 Jahren haben beim zweiten Durchgang der Parlamentswahlen gewählt. Kann man von einer kollektiven Politikverdrossenheit sprechen?

Louis Chauvel: Absolut. Immer weniger junge Franzosen engagieren sich in der Politik oder in Gewerkschaften. Sie distanzieren sich davon, weil sie frustriert sind. Denn ihre Anliegen kommen im politischen Diskurs kaum vor. Das liegt daran, dass es in Frankreich über 30 Jahre lang keine politische Erneuerung gab. Als François Mitterrand 1981 Präsident wurde, zog mit ihm eine neue Generation junger Politiker in die Nationalversammlung ein, die das politische Geschehen bis heute bestimmte. Teil dieser Generation sind etwa der Sozialist Laurent Fabius oder die Konservativen Alain Juppé und François Fillon. Diese Politiker haben den nachfolgenden Generationen keinen Platz eingeräumt, sondern sie immer weiter ins Abseits gedrängt. Die Folge: Die gesellschaftlichen Probleme der Jungen werden vom politischen Personal nicht verkörpert und vom Establishment nicht wahrgenommen.

Was sind das für Probleme?

Die französische Jugend ist von einem großen gesellschaftlichen Abstieg betroffen, den ich die "Spirale der Deklassierung" nenne. Zu dieser Spirale tragen mehrere Faktoren bei. Neben der fehlenden politische Repräsentation sind das vor allem Prekarität und extreme hohe Arbeitslosigkeit. Jeder vierte Franzose unter 25, der auf dem Arbeitsmarkt ist, findet keinen Job. Die Jungen sind besser ausgebildet als die Generationen vor ihnen, aber es gelingt ihnen nicht, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Und wenn doch, dann nur in schlecht bezahlten oder befristeten Stellen.

Sie bezeichnen diese jungen Franzosen als Baby-Loser.

Ja. Sie sind die Nachfolger der Baby-Boomer. Die Baby-Loser leben in einer Zeit permanenter wirtschaftlicher Krisen. Diese jungen Franzosen haben prekäre Jobs und verdienen weniger als ihre Eltern im gleichen Alter. Um das selbe Einkommensniveau zu erreichen, müssen sie zwei bis drei Jahre länger studieren. Nach dem dritten Masterabschluss merken sie dann, dass sie trotzdem keinen Job in ihrem Bereich bekommen, und nehmen schließlich mit 35 eine Stelle an, die nichts mit ihrer Ausbildung zu tun hat. Hinzu kommt, dass sie mit ihren niedrigen Gehältern die immer teurer werdenden Mieten nicht bezahlen können. Viele wohnen daher weit von ihrer Arbeit entfernt oder ziehen sogar ins Hotel Mama zurück.

Wie geht es den Baby-Losern damit?

Das ist eine deprimierte Jugend. Anders als ihre deutschen Nachbarn leben die jungen Franzosen in ständiger Angst vor der Arbeitslosigkeit. Immer mehr von ihnen befinden sich wegen Angstzuständen in psychiatrischer Behandlung. Diese Massendepression greift auch auf ihre Familien über. Die Eltern, die Anstrengungen unternommen haben, um ihren Kindern das Studium zu finanzieren, verzweifeln, wenn sie sehen, dass diese keine Arbeit finden.

Sie sagen, die junge Generation hat keinen Platz in der Politik. Wird sich das mit Emmanuel Macron ändern?

Die Erneuerung der politischen Szene findet jetzt statt. Mit dem Einzug der Abgeordneten von Macrons "La République en marche" in die Nationalversammlung steigt der Prozentsatz der unter 40-Jährigen dort gewaltig an. Allerdings sind die jungen Abgeordneten nicht auf den Wechsel vorbereitet. Viele haben keinerlei Erfahrung, weil sie sich zuvor nie politisch engagiert haben. Paradox ist auch, dass Macron für eine Erneuerung stehen will, seine Wähler aber vor allem aus der älteren Generation kommen. Der jüngste Präsident Frankreichs kann die Jugend nicht überzeugen.

Woran liegt das?

Die jungen Franzosen erkennen sich in ihm nicht wieder. Macron steht für das Establishment par excellence. Sein zentralistisches, in vieler Hinsicht vages Programm kommt bei ihnen nicht an. Die jungen Franzosen wollen radikale Lösungen, jemanden, der ihre Lage anprangert und sich für sie starkmacht. Ihre Kandidaten orientieren sich an den politischen Rändern. Bei der Präsidentschaftswahl war das die starke populistische Linke von Jean-Luc Mélenchon, oder aber, vor allem für die Jugend in ländlichen Gebieten, der Front National.

Können die Baby-Loser aus ihrer Abwärtsspirale ausbrechen?

Dazu bräuchte es einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Die Jungen müssen ihr Schicksal auch selbst in die Hand nehmen und erkennen, dass sie nicht jahrzehntelang auf ihren Traumjob warten können. Ein Beispiel: Jedes Jahr werden in Frankreich etwa 50 Stellen für Journalisten frei. Wir bilden aber mehrere hundert aus. Fünf von sechs jungen Franzosen werden in einem Bereich arbeiten müssen, der nicht ihrem Diplom entspricht, oder aber ins Ausland gehen.

Man verlangt von ihnen also mehr Flexibilität?

Vor allem mehr Rationalität. Der Jugend muss die Realität ihrer deprimierenden Lage bewusst werden. Ich zitiere in meinem Buch den österreichischen Schriftsteller Hermann Broch. Dieser spricht in seiner Studie "Hofmannsthal und seine Zeit" von der "Fröhlichen Apokalypse": Für die Menschen im Wien der Jahrhundertwende, denen die Katastrophe des Ersten Weltkriegs bevorstand, war die Tragik der Lage bedeutungslos. Die Bürgerinnen und Bürger Wiens konnten abends weiter in die Oper gehen und danach ihren Tafelspitz essen. Frankreich erlebt jetzt gerade diesen stilvollen Untergang: Der Wein schmeckt noch gut, wenn auch nicht so gut wie früher. Die Menschen haben weniger Arbeit, aber dadurch auch mehr Freizeit. Die Existenzängste nehmen zu, aber wir gaukeln uns vor, dass wir trotz allem ein angenehmes Leben führen. Das Risiko dabei ist, dass wir die Abwärtsspirale nicht wahrnehmen und unsere Lage nicht ändern.

Ist die Apokalypse unaufhaltsam?

Nicht unbedingt. Aber es wird schwer werden, ihr zu entgehen, wenn die Politik sich gegenüber dieser Realität weiter so naiv verhält. Wir haben heute einen Präsidenten ohne klares Programm, der jedem alles verspricht, dabei aber vage bleibt und somit auf lange Sicht zwangsläufig einen Teil der Bevölkerung frustrieren wird. Das birgt ein enormes Risiko der politischen Radikalisierung. Wir könnten uns in fünf Jahren mit einem Anti-Macron an der Spitze des Staates wiederfinden. Und das wäre das Gegenteil einer Lösung.